Freitag, 10. November 2017

So ein Zufall (2)

Benjamin sah Mira an, doch es war so, als schaue er durch sie hindurch. ‚Was macht sie hier auf dem Wochenmarkt?’, ging ihm dabei durch den Kopf. Er wusste von ihr, dass sie Erzieherin war. Jedenfalls hatte sie das gesagt, als ihre Brille wieder einmal verbogen war. Egal! Das tat jetzt nichts zur Sache. Ihm war völlig egal, welchen Beruf Mira Bellenbaum ausübte. Er war in seiner Männlichkeit gekränkt. Diese Emotion nahm ihn völlig gefangen. Caroline Fröhlich hatte ihn ausgelacht und damit tief verletzt. Er hätte jetzt dringend jemanden gebraucht, dem er sich anvertrauen konnte und der ihm Trost zusprach. Doch das war ganz sicher nicht Frau Bellenbaum.
Nachdem all diese Gedanken wie Blitze durch seinen Kopf geschossen waren, fasste er sich: „Ach, Frau Bellenbaum. Das ist ja nett, dass ich sie hier treffe. Leider können sie nichts für mich tun. Ich reagiere nämlich allergisch auf Erdbeeren.“ Schon drehte er sich um und verließ umgehend und grußlos den Stand.
Nun war es Mira, die mit offenem Mund da stand. Tränen sammelten sich in ihren Augen, während sie hinter ihm her sah.
„Was ist denn mit dir los?“, erkundigte sich ihre beste Freundin Anne. Ihr und ihrem Mann gehörte der Biohof für den Mira heute an diesem Stand die Erdbeeren verkaufte. Sie war ausnahmsweise für eine erkrankte Mitarbeiterin eingesprungen.
„Das war ER!“, erwiderte Mira und klang dabei ziemlich deprimiert.
„Wer war was?“
„Na, du weißt schon, der Mann, der hier eben stand. Das war er - Benjamin, der Optiker.“
„Was? Und den lässt du einfach so von dannen ziehen? Du hättest ihm ein Schälchen Erdbeeren schenken können als Dankeschön, weil er dich immer so nett bedient. Oder du hättest ihn auf ein Eis eingeladen können nach Feierabend. Mensch, Mira, du bist doch sonst nicht auf den Mund gefallen. Jetzt ist er weg, oder?“
Anne machte einen langen Hals, doch sie konnte Benjamin nirgendwo erspähen. Mira ließ den Kopf hängen. „Weißt du was“, meinte sie an ihre Freundin gerichtet, „ich werde mir einen anderen Optiker suchen, wenn ich wirklich mal Probleme mit meiner Brille habe. Das mit mir und DEM, dass wird nie was. Ich glaube, es ist besser, wenn ich ihn mir aus dem Kopf schlage. Er hat kein Interesse an mir. Das merke ich doch. Wahrscheinlich hat er sowieso eine Freundin.“
„Glaub mir, Männer in seinem Alter, die am Samstagmorgen alleine auf dem Wochenmarkt einkaufen, sind Singles.“
Benjamin ging schnurstracks nach Hause. Das heißt, er hatte diesen Plan, doch das Leben hatte einen anderen. Es war nicht leicht für das Schicksal, diese beiden Menschen zusammen zu führen. Doch irgendwie musste es klappen. Diese beiden Menschen gehörten zusammen – einer von beiden wusste es nur noch nicht. Deshalb musste das Schicksal jetzt wohl zu drastischeren Mitteln greifen. Wie sagen die Menschen so klug? Wer nicht hören will, muss fühlen!
Doch Benjamin hatte Glück im Unglück, denn der Zufall hörte von dieser Misere, schaltete sich ein und sprach auf das Schicksal ein. „Liebes Schicksal, lass mich noch einmal versuchen,  die beiden zusammen zu bringen. Wenn es diesmal wieder nicht klappt, werde ich mich zurückziehen und du kannst eingreifen.“ Das Schicksal war einverstanden und zog sich noch einmal zurück.
Benjamin ging nicht zu seinem Auto, er rannte. Immer wieder kam ihm dabei das helle Lachen von Caroline in den Sinn. Da hatte er sich die ganze Zeit eingebildet, sie sei die tollste Frau auf Gottes Erdboden und nun stellte sich heraus, dass sie eingebildet und eine ziemlich dumme Zicke war. Das musste er erst einmal verdauen.
Benjamin verstaute seine Einkäufe im Auto und blieb anschließend noch eine Weile hinter dem Steuerrad sitzen. Was sollte er jetzt tun? Nach Hause fahren, seinen besten Freund anrufen oder … Das schien ihm die beste Idee zu sein. Er fuhr zu einem kleinen, abseits gelegenen Weiher. Als Kind war er manchmal mit seinem Vater hierher gefahren. Heute dachte er daran, dass sein Vater diesen Platz aufgesucht hatte, wenn es galt, Entscheidungen zu treffen. Vielleicht würde ihm ja auch einiges klarer erscheinen, wenn er dort in der Stille in sich ging.
Anne konnte es nicht mehr mit ansehen, wie sehr Mira litt. „Weißt du was“, sagte sie deshalb, „mach für heute Schluss und gönn dir etwas Gutes. Kauf dir ein neues Kleid, geh ein Eis essen oder in die Sauna. Egal. Unternimm irgendwas, damit es dir wieder besser geht.“ Mira nahm das Angebot gerne an.
Eine kurze Zeit später saß sie in ihrem Auto und fuhr einfach ohne Ziel und ohne Plan los. Abrupt trat sie auf die Bremse und steuerte einen kleinen Parkplatz an. Dort an dem kleinen Weiher würde sie spazieren gehen und überlegen, wie es in ihrem Leben weitergehen sollte. Wieder dachte sie an Benjamin. Es war schön zu lieben, doch nicht, wenn diese Liebe nicht erwidert wurde. Das war einfach schrecklich und schmerzte im tiefsten Inneren.
Mira war nicht besonders gläubig und deshalb wusste sie auch nicht, an wen sie sich in ihrer Not wenden sollte, als sie auf einer Bank saß und dem Zirpen der Grillen lauschte. Sie schaute hoch zum Himmel. „He, ihr da oben. Gibt es jemanden, der für mich zuständig ist? Ich hab da nämlich ein Problem. Also, wenn es so ist, dass Benjamin nicht für mich der passende Deckel ist, schickt mir doch bitte den, der passt und wenn es geht, recht schnell.“
Benjamin dachte während des ausgiebigen Spazierganges über sein Leben nach. Er war jetzt in einem Alter, in dem andere eine Familie planten. Er hatte nicht einmal die passende Partnerin und seit heute wusste er, dass es Caroline Fröhlich nicht war, mit der er eine Beziehung führen wollte. Er hatte sich wohl in ihr Äußeres verliebt. Ab jetzt wollte er mehr auf die inneren Werte achten.
Benjamin näherte sich einer Bank. Obwohl dort schon jemand saß, schlug er die Richtung dorthin ein. Als er die Person erkannte, blieb er abrupt stehen: Mira Bellenbaum! Welch unfassbarer Zufall!
Hinter einer dicken Eiche in der Nähe der Bank verweilte schmunzelnd der Zufall. Als Benjamin sich setzte, drehte sich der Zufall um und ging – seine Mission war beendet.


© Martina Pfannenschmidt, 2016