Kathrin fiel
völlig erschöpft in Omas
Sessel. „Du Omi, ich komme gerade vom Sport und jetzt muss ich auch noch meine
Hausaufgaben machen und für die musst du mir jetzt Rede und Antwort stehen.“
„Jawoll, Frau
General“, scherzte Oma, „schießen sie
mal los. Um was geht es denn?“
„Pass auf.
Die Meinert, meine Lehrerin, hat uns eine Aufgabe gestellt. Wir sollen morgen
von einem Schlüsselerlebnis berichten oder ein Beispiel davon bringen. Wenn uns
gar nichts einfällt, hat sie gesagt, sollen wir einen Erwachsenen dazu befragen.
Zuerst dachte ich, ich wollte davon schreiben, dass
Mama ständig ihren Autoschlüssel sucht, doch das ist wohl nicht gemeint“,
scherzte Kathrin.
„Das ist zwar
auch ein Erlebnis, deine Mama beim Suchen ihres Schlüssels zu beobachten, doch
das ist in der Tat nicht gemeint.“
„Ich weiß“,
antwortete Kathrin etwas zu pampig. Manchmal nervte Oma ganz schön wenn sie ständig so tat, als sei Kathrin noch ein
kleines Kind dem man andauernd etwas erklären musste. Auf der anderen Seite gab
es da schon das ein oder andere, was man von Oma lernen konnte und deshalb
erkundigte sich Kathrin dann doch, welcher Sinn für ihre Großmutter hinter dem
Wort ‚Schlüsselerlebnis’ steckte.
„Für mich
bedeutet es ein Erlebnis oder ein Ereignis, das mir eine neue Erkenntnis
bringt. Quasi einen Schlüssel zu einer bisher verschlossenen Tür, die
ich dann aufschließen kann.“
„Okay Omi,
leg los.“
„Wenn ich
darüber nachdenke, fallen mir als allererstes Kinder ein, deren Eltern sich
scheiden lassen. Das ist etwas sehr Einschneidendes für sie. Die Kinder denken
oft sie seien schuld daran, wenn die Eltern sich trennen. Doch so ist es ja
nicht. Manchmal wird im Laufe der Jahre die Liebe zwischen den Eheleuten einfach
weniger oder sie vergeht ganz. Das hat nur mit den Eltern zu tun und nichts mit
den Kindern. Für die Kinder ändert sich das Leben jedoch schlagartig. Sie leben
oft nur noch bei der Mutter, sehen den Vater selten. Damit kommen sie schwer
zurecht.“
„Das ist
wirklich nicht schön“, stimmte Kathrin zu. „In meiner Klasse sind mehrere
Kinder, deren Eltern geschieden sind. Bestimmt schreiben sie auch von diesem
Schlüsselerlebnis.“
„Möglich!“
„Du Omi, was
ist aber bei diesem Erlebnis der Schlüssel zu der Tür, von der du gesprochen
hast?“
„Zum Beispiel
die Erkenntnis, dass sich alles von heute auf morgen verändern kann und nichts
ewig Bestand hat. Auch nicht die größte Liebe.“
„Was denkst
du, werden Mama und Papa sich auch eines Tages scheiden lassen?“
„Das kann dir
niemand voraussagen, Kathrin. Alles ist möglich. Doch sie lieben sich schon
sehr. Man sieht es ihnen an. Deshalb denke ich nicht, dass es eines Tages so
kommen wird.“
„Gott sei
Dank! Ich könnte es nämlich nicht ertragen, sie nicht mehr beide bei mir zu
haben. Wenn ich es mir nur vorstelle, bekomme ich schon Bauchweh.“
„Ich mag es
mir auch nicht vorstellen.“
„Du, Omi, ich
glaube, das reicht schon für morgen zum Thema Schlüsselerlebnis. Dankeschön! Übrigens,
kennst du den Unterschied zwischen Gott und den Lehrern?“
„Wie kommst
du denn jetzt darauf? Nein, den kenne ich nicht!“
Kathrin
grinste breit, als sie antwortete: „Gott weiß alles, Lehrer wissen alles
besser.“
„Ja, manchmal
hat es den Anschein als sei es so, obwohl das ja niemand erwarten kann.“
„Aber warum
tun Lehrer manchmal so, als ob?“
„Wenn ich an
meine Schulzeit zurück denke, waren nicht alle Pauker, wie du wohl heute sagen
würdest, Besserwisser. Viele gehen jedoch davon aus, dass Lehrer, weil sie ja
andere unterrichten, viel mehr wissen müssen, als alle anderen.“
Kathrin kam
ein sonderbarer Gedanke. „Stell dir mal vor, Frau Meinert käme zu ‚Wer wird Millionär’ und würde an der
Frage scheitern: Wie sagt man: Klappe zu, … A: Nase voll, B: Affe tot, C: Ofen
aus oder D: Finger weg. Die würde sich doch am nächsten Tag nicht mehr in der
Schule blicken lassen können.“
„Und es wäre ein
wahres Schlüsselerlebnis für sie. Nämlich die Erkenntnis, dass Lehrer eben nicht
alles wissen.“
Kathrin zog
daraus ihr eigenes Fazit. „Ich glaube, eigentlich bräuchten wir gar keine
Lehrer mehr. Es steht doch sowieso alles in Lexika oder im Internet. Lehrer
sind bestimmt Auslaufmodelle.“
Während sie
das sagte, stand sie auf und wandte sich zur Tür.
„Du bist mir
vielleicht eine Marke“, amüsierte sich Oma.
„Mag sein“,
entgegnete Kathrin forsch, „aber eine, die man weder durch ein Lexikon noch
durch das Internet ersetzen kann.“
© Martina
Pfannenschmidt, 2015