Montag, 6. November 2017

Schicksalhafte Begegnung

Ines bummelte an ihrem freien Tag durch die Stadt und genoss die herbstliche Sonne in vollen Zügen. Sie erfreute sich an dem Springbrunnen, der fröhlich vor sich hin plätscherte und an dem bunten Treiben um sie herum. Ines schlenderte an einem Café vorüber, in dem sie gerne einen Cappuccino getrunken und die Sonnenstrahlen genossen hätte, doch die Plätze schienen alle belegt zu sein.
Als sie schon weitergehen wollte, erblickte sie aus den Augenwinkeln heraus einen freien Platz am Tisch eines älteren Herrn. Da sie keine Berührungsängste kannte, ging sie forschen Schrittes auf ihn zu und fragte freundlich: „Entschuldigung, ist der Platz dort noch frei?“
Der ältere Herr sah sie aus traurigen Augen an, antwortete aber dennoch etwas verschmitzt: „Wenn ich Ihnen nicht zu alt bin, dürfen Sie von Herzen gerne hier Platz nehmen.“
Ines bedankte sich, bestellte einen Cappuccino und hatte sogleich das Gefühl, als gäbe es da etwas, das den älteren Herrn sehr bedrückt. Völlig zwanglos begann sie eine Plauderei mit ihm über den schönen Tag und die herbstliche Färbung der Bäume. Besonders gesprächig schien der Mann jedoch nicht zu sein. Deshalb zog sie es vor, auch zu schweigen.
Unerwartet durchbrach der Mann die Stille und begann zu reden: „Wissen Sie, es ist noch gar nicht so lange her, da saß meine Frau dort auf dem Platz, den sie jetzt einnehmen. Doch inzwischen ist sie von mir gegangen. Und jetzt ist es so furchtbar still in meinem Leben. Niemand ist mehr da, der mir einen ‚Guten Morgen’ wünscht, der sich erkundigt, wie es mir geht. Ihr Platz bleibt leer, wohin ich auch gehe. Ich habe oftmals das Gefühl, als hätte mich jemand zerteilt und sozusagen die bessere Hälfte von mir genommen.“ Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Wir waren fast 60 Jahre lang verheiratet. Das ist eine sehr lange Zeit. Man wächst so sehr zusammen, dass es für die zurückbleibende Hälfte fast unerträglich ist.“
Ines konnte darauf nicht antworten. Sie hatte einen dicken Kloß im Hals. Sie erinnerte sich in diesem Moment an einen kleinen Streit, den sie kürzlich mit ihrem Freund gehabt hatte. So sinnlos war es, sich zu streiten. Er würde ihr auch fehlen, wenn er plötzlich nicht mehr da wäre, ging es ihr durch den Kopf, doch wie musste es sich erst anfühlen, wenn man so lange alles nur gemeinsam erlebt hatte.
„Das Schlimme ist, oder zumindest empfinde ich es so“, führte der Mann weiter aus, „dass wir ein beneidenswertes Leben geführt haben. Doch das wird mir erst jetzt so richtig bewusst. Warum nur habe ich ihr nicht öfter gesagt, wie sehr ich sie liebe und Blumen hätte ich ihr kaufen sollen, solange sie noch bei mir war. Sie liebte Blumen, müssen Sie wissen. An jedem Wochenende brachte sie sich einen bunten Strauß vom Wochenmarkt mit. Aber das ist ja nicht dasselbe, nicht wahr. Ich habe ihr nie welche geschenkt. An jedem Samstag gehe ich nun zum Markt, kaufe einen Strauß und stelle ihn auf ihr Grab. Doch wie heißt es in einem Spruch? ‚Schenke Blumen während des Lebens, denn auf den Gräbern, da blühen sie vergebens!’  Genau so ist es, doch jetzt ist es für diese Erkenntnis leider zu spät.“
Ines wusste immer noch nicht, was sie sagen sollte, aber das erwartete der Mann wohl gar nicht. Sie kannte diesen Spruch, den er zitierte, doch erst jetzt erkannte sie die ganze Wahrheit, die er beinhaltete!
„Sind sie verheiratet?“, stellte er ihr die Frage. Ines schüttelte mit dem Kopf. „Sie sollten nicht alleine bleiben“, riet er ihr, „das Leben ist viel schöner, wenn man es gemeinsam erleben darf. Wissen Sie, das Schicksal hat es so gewollt, dass wir keine Kinder haben. Das war schwer für meine Frau. Als wir noch jung waren und fest stand, dass es so sein würde, fragte sie mich eindringlich, ob wir nicht eines adoptieren wollten. Doch das kam für mich nicht in Frage. Sie hat das Thema nie wieder aufgegriffen und heute denke ich, vielleicht hat sie ein Kind doch sehr schmerzlich vermisst. Wenn ich in unserer großen Wohnung so alleine da sitze, merke ich, dass ich in dieser Hinsicht vielleicht einen großen Fehler gemacht habe. Vielleicht hätte ein Kind noch mehr Freude gebracht. - Verstehen Sie mich nicht falsch, unser Leben war schön, wir haben es in vollen Zügen genossen, konnten uns vieles leisten, was uns mit einem Kind wohl nicht möglich gewesen wäre, doch heute würde ich mich wohl nicht so einsam fühlen, gäbe es da noch einen Menschen, der mir nahe stände. Doch das ist sehr eigennützig von mir gedacht, nicht wahr, und das Geschwätz eines senilen alten Mannes. Hören Sie am besten gar nicht hin!“
Der ältere Herr trank den letzten Schluck Kaffee, der sich noch in seiner Tasse befand und seufzte tief.
Das, was er gesagt hatte, traf Ines mitten ins Herz und sie erkannte, dass es so viele Worte gibt, die man nicht spricht und so viele nette Gesten, die man nicht austauscht. Ines empfand Mitleid mit diesem ihr fremden Herrn. Welche Worte konnten ihm jetzt helfen? Sie ersparte sich Sätze wie ‚Die Zeit heilt alle Wunden’ oder ‚Sie werden sehen, dass wird schon wieder’. Sie spürte, dass es für jeden Menschen schwere Wegstrecken gibt, die er ganz alleine gehen muss, wo niemand wirklich helfen kann. Sie überlegte, was es sein könnte, dass ihn erfreuen und vielleicht ein klein wenig aufmuntern würde. Eigentlich ist es ganz einfach, dachte sie. Er braucht nur jemanden, der ihm zuhört und genau das tat sie.
„Ich habe mich entschieden“, fuhr er unerwartet fort, „in ein Altenheim zu gehen. Es ist zwar im Moment noch eine ganz furchtbare Vorstellung, doch es bleibt mir wohl nichts anderes übrig. Meine Frau hat immer für mich gekocht, bis zuletzt mich umsorgt. Seit ihrem Tod bekomme ich das so genannte ‚Essen auf Rädern’. Es ist eine warme Mahlzeit, ja, doch es schmeckt nicht so wie bei ihr und ich sitze immer alleine am Tisch. Wissen Sie, ich habe meiner Frau auch viel zu selten gesagt, wie gut es mir schmeckt, was sie mit so viel Liebe für uns zubereitet hat.“
Nach diesen Worten erhob sich der Mann, nahm seinen Hut und den Stock, der an seinem Stuhl lehnte, wünschte ihr noch einen schönen Tag und schlurfte langsam davon. Ines schaute ihm noch eine Weile nach. Er ging sehr gebeugt, schien unter der Last, die auf seinen Schultern ruhte, fast zusammen zu brechen. Er wirkte so einsam und hilflos.
In diesem Moment wusste Ines, was sie für ihn tun konnte. Schnell griff sie nach ihrer Geldbörse und legte einen Geldschein unter ihre Tasse. Dann sprang sie auf und lief dem alten Mann hinterher. Als sie bei ihm angelangt war, fragte sie: „Ich habe gerade etwas Zeit, wollen wir gemeinsam Ihre Frau besuchen?“
Als der alte Mann nickte, hakte sich Ines spontan bei ihm ein. Gemeinsam setzten sie ihren Weg fort.

© Martina Pfannenschmidt, 2015