Ines
bummelte an ihrem freien Tag durch die Stadt und genoss die herbstliche Sonne
in vollen Zügen. Sie erfreute sich an dem Springbrunnen, der fröhlich vor sich
hin plätscherte und an dem bunten Treiben um sie herum. Ines schlenderte an
einem Café vorüber, in dem sie gerne einen Cappuccino getrunken und die
Sonnenstrahlen genossen hätte, doch die Plätze schienen alle belegt zu sein.
Als
sie schon weitergehen wollte, erblickte sie aus den Augenwinkeln heraus einen
freien Platz am Tisch eines älteren Herrn. Da sie keine Berührungsängste
kannte, ging sie forschen Schrittes auf ihn zu und fragte freundlich:
„Entschuldigung, ist der Platz dort noch frei?“
Der
ältere Herr sah sie aus traurigen Augen an, antwortete aber dennoch etwas verschmitzt:
„Wenn ich Ihnen nicht zu alt bin, dürfen Sie von Herzen gerne hier Platz
nehmen.“
Ines
bedankte sich, bestellte einen Cappuccino und hatte sogleich das Gefühl, als
gäbe es da etwas, das den älteren Herrn sehr bedrückt. Völlig zwanglos begann
sie eine Plauderei mit ihm über den schönen Tag und die herbstliche Färbung der
Bäume. Besonders gesprächig schien der Mann jedoch nicht zu sein. Deshalb zog
sie es vor, auch zu schweigen.
Unerwartet
durchbrach der Mann die Stille und begann zu reden: „Wissen Sie, es ist noch
gar nicht so lange her, da saß meine Frau dort auf dem Platz, den sie jetzt
einnehmen. Doch inzwischen ist sie von mir gegangen. Und jetzt ist es so
furchtbar still in meinem Leben. Niemand ist mehr da, der mir einen ‚Guten
Morgen’ wünscht, der sich erkundigt, wie es mir geht. Ihr Platz bleibt leer,
wohin ich auch gehe. Ich habe oftmals das Gefühl, als hätte mich jemand
zerteilt und sozusagen die bessere Hälfte von mir genommen.“ Nach einer kurzen
Pause fügte er hinzu: „Wir waren fast 60 Jahre lang verheiratet. Das ist eine
sehr lange Zeit. Man wächst so sehr zusammen, dass es für die zurückbleibende
Hälfte fast unerträglich ist.“
Ines
konnte darauf nicht antworten. Sie hatte einen dicken Kloß im Hals. Sie
erinnerte sich in diesem Moment an einen kleinen Streit, den sie kürzlich mit
ihrem Freund gehabt hatte. So sinnlos war es, sich zu streiten. Er würde ihr
auch fehlen, wenn er plötzlich nicht mehr da wäre, ging es ihr durch den Kopf,
doch wie musste es sich erst anfühlen, wenn man so lange alles nur gemeinsam
erlebt hatte.
„Das
Schlimme ist, oder zumindest empfinde ich es so“, führte der Mann weiter aus,
„dass wir ein beneidenswertes Leben geführt haben. Doch das wird mir erst jetzt
so richtig bewusst. Warum nur habe ich ihr nicht öfter gesagt, wie sehr ich sie
liebe und Blumen hätte ich ihr kaufen sollen, solange sie noch bei mir war. Sie
liebte Blumen, müssen Sie wissen. An jedem Wochenende brachte sie sich einen
bunten Strauß vom Wochenmarkt mit. Aber das ist ja nicht dasselbe, nicht wahr.
Ich habe ihr nie welche geschenkt. An jedem Samstag gehe ich nun zum Markt,
kaufe einen Strauß und stelle ihn auf ihr Grab. Doch wie heißt es in einem
Spruch? ‚Schenke Blumen während des
Lebens, denn auf den Gräbern, da blühen sie vergebens!’ Genau so ist es, doch jetzt ist es für diese
Erkenntnis leider zu spät.“
Ines
wusste immer noch nicht, was sie sagen sollte, aber das erwartete der Mann wohl
gar nicht. Sie kannte diesen Spruch, den er zitierte, doch erst jetzt erkannte
sie die ganze Wahrheit, die er beinhaltete!
„Sind
sie verheiratet?“, stellte er ihr die Frage. Ines schüttelte mit dem Kopf. „Sie
sollten nicht alleine bleiben“, riet er ihr, „das Leben ist viel schöner, wenn
man es gemeinsam erleben darf. Wissen Sie, das Schicksal hat es so gewollt,
dass wir keine Kinder haben. Das war schwer für meine Frau. Als wir noch jung
waren und fest stand, dass es so sein würde, fragte sie mich eindringlich, ob
wir nicht eines adoptieren wollten. Doch das kam für mich nicht in Frage. Sie
hat das Thema nie wieder aufgegriffen und heute denke ich, vielleicht hat sie
ein Kind doch sehr schmerzlich vermisst. Wenn ich in unserer großen Wohnung so
alleine da sitze, merke ich, dass ich in dieser Hinsicht vielleicht einen
großen Fehler gemacht habe. Vielleicht hätte ein Kind noch mehr Freude
gebracht. - Verstehen Sie mich nicht falsch, unser Leben war schön, wir haben
es in vollen Zügen genossen, konnten uns vieles leisten, was uns mit einem Kind
wohl nicht möglich gewesen wäre, doch heute würde ich mich wohl nicht so einsam
fühlen, gäbe es da noch einen Menschen, der mir nahe stände. Doch das ist sehr
eigennützig von mir gedacht, nicht wahr, und das Geschwätz eines senilen alten
Mannes. Hören Sie am besten gar nicht hin!“
Der
ältere Herr trank den letzten Schluck Kaffee, der sich noch in seiner Tasse
befand und seufzte tief.
Das,
was er gesagt hatte, traf Ines mitten ins Herz und sie erkannte, dass es so
viele Worte gibt, die man nicht spricht und so viele nette Gesten, die man
nicht austauscht. Ines empfand Mitleid mit diesem ihr fremden Herrn. Welche
Worte konnten ihm jetzt helfen? Sie ersparte sich Sätze wie ‚Die Zeit heilt alle Wunden’ oder ‚Sie werden sehen, dass wird schon wieder’.
Sie spürte, dass es für jeden Menschen schwere Wegstrecken gibt, die er ganz
alleine gehen muss, wo niemand wirklich helfen kann. Sie überlegte, was es sein
könnte, dass ihn erfreuen und vielleicht ein klein wenig aufmuntern würde.
Eigentlich ist es ganz einfach, dachte sie. Er braucht nur jemanden, der ihm
zuhört und genau das tat sie.
„Ich
habe mich entschieden“, fuhr er unerwartet fort, „in ein Altenheim zu gehen. Es
ist zwar im Moment noch eine ganz furchtbare Vorstellung, doch es bleibt mir
wohl nichts anderes übrig. Meine Frau hat immer für mich gekocht, bis zuletzt
mich umsorgt. Seit ihrem Tod bekomme ich das so genannte ‚Essen auf Rädern’. Es
ist eine warme Mahlzeit, ja, doch es schmeckt nicht so wie bei ihr und ich
sitze immer alleine am Tisch. Wissen Sie, ich habe meiner Frau auch viel zu
selten gesagt, wie gut es mir schmeckt, was sie mit so viel Liebe für uns
zubereitet hat.“
Nach
diesen Worten erhob sich der Mann, nahm seinen Hut und den Stock, der an seinem
Stuhl lehnte, wünschte ihr noch einen schönen Tag und schlurfte langsam davon.
Ines schaute ihm noch eine Weile nach. Er ging sehr gebeugt, schien unter der
Last, die auf seinen Schultern ruhte, fast zusammen zu brechen. Er wirkte so
einsam und hilflos.
In
diesem Moment wusste Ines, was sie für ihn tun konnte. Schnell griff sie nach
ihrer Geldbörse und legte einen Geldschein unter ihre Tasse. Dann sprang sie
auf und lief dem alten Mann hinterher. Als sie bei ihm angelangt war, fragte
sie: „Ich habe gerade etwas Zeit, wollen wir gemeinsam Ihre Frau besuchen?“
Als
der alte Mann nickte, hakte sich Ines spontan bei ihm ein. Gemeinsam setzten
sie ihren Weg fort.
©
Martina Pfannenschmidt, 2015