Freitag, 10. November 2017

Schicksal ? (1)

Zuckelnd setzte sich die Straßenbahn in Bewegung. Viele Menschen waren wie Clarissa auf dem Weg von ihrer Arbeitsstelle nach Hause. Wie dieses Zuhause der anderen Menschen wohl aussah? Wie wohnte der Mann, der so griesgrämig schaute? Clarissa stellte sich eine schäbige alte Wohnung vor, in der eine mürrisch drein blickende dicke Frau in einer viel zu engen Leggings auf ihn wartete. Vielleicht stand sie gerade am Herd und rührte in einem Topf mit Spaghetti. Im Mundwinkel eine Zigarette, deren Asche auf den dreckigen und klebrigen Fußboden fiel. Am Bein hing ihr ein weinendes Kleinkind, das sich gerade den Finger geklemmt hatte.
Oder dort, das hübsche junge Mädchen, das eifrig Nachrichten auf seinem Handy schrieb. Ob sie einen Freund hatte? Vielleicht hatte er ihr gerade eine Liebesnachricht geschickt oder per SMS mit ihr Schluss gemacht. War sie eine gute Schülerin, die das Gymnasium besuchte und beliebt war? Vielleicht war sie Klassensprecherin und setzte sich für die Belange anderer ein. Genauso gut konnte sie auch die größte Zicke der gesamten Schule sein.
Dort die Hausfrau mit der Einkaufstasche. Bestimmt hatte sie frisches Gemüse gekauft, aus dem sie gleich zu Hause etwas Leckeres für ihre Familie zauberte. Es war natürlich auch möglich, dass sie gerade eine Bank überfallen hatte und sich in ihrer Tasche die Beute befand.
Clarissa grinste. Mit Hilfe ihrer Gedanken erdachte sie sich zu den Mitfahrenden lustige Geschichten. Sie hatte dabei das Gefühl, so ein kleines bisschen Schicksal zu spielen. Ihr Blick wanderte weiter und blieb an zwei blauen Augen hängen. Moment mal, wurde sie von diesen Augen, die zu einem gut aussehenden jungen Mann gehörten, etwa beobachtet? Dieses blau faszinierte sie, machte ihr aber auch ein bisschen Angst. Noch nie in ihrem Leben hatte sie solch eisblauen Augen gesehen. Ein leichter Schauer lief über ihren Rücken. Vielleicht war er ein Mörder, der sich ein neues Opfer suchte. Er würde doch nicht etwa sie im Visier haben? Clarissa, schalt sie sich selbst: Du schaust zu viele Krimis. Der Mann sieht doch wirklich nett aus. Aber warum schaut er dich so durchdringend an? Sie wagte erneut einen Blick in seine Richtung. Da, er lächelte sie an. Warum lächelte er? War das ein gutes Zeichen oder erriet er vielleicht ihre Gedanken und war von ihnen belustigt? Es war ja auch möglich, dass er gar kein Mörder war, sondern ein netter Familienvater. Bestimmt wohnte er in einem kleinen Haus am Stadtrand und im Garten standen für die Kinder eine Schaukel und ein Sandkasten. Ach, es war herrlich, sich das Leben anderer Menschen vorzustellen.
Manchmal erdachte sie sich auch ihr eigenes Leben, stellte sich vor, wie es sein würde, endlich einen Mann an ihrer Seite zu haben. Leider war sie bisher nur an die falschen Männer geraten. Das sollte ihr nicht noch einmal passieren.
Die Bahn hielt. Der Mann, der zu den eisblauen Augen gehörte, erhob sich und stieg aus. Dann wohnte er wohl doch nicht am Stadtrand, sondern in einer kleinen Mietwohnung, so wie sie. Vielleicht gab es auch gar keine Frau in seinem Leben.
Ach, es wäre einfach zu schön, könnte man sich nur mit Hilfe seiner Gedanken sein Leben zu Recht zimmern. Wenn es so wäre, dann wünschte sie, dieser junge Mann hätte sie angesprochen und auf ein Glas Wein eingeladen oder noch besser, sie käme nach Hause und er wäre in die leer stehende Nachbarwohnung eingezogen. Dann wohnte sie Tür an Tür mit ihm. Ein verlockender Gedanke. Vielleicht würde sich daraus eine Liebesgeschichte ergeben. Aber leider spielte das Leben ja nach seinen eigenen Regeln.
Die S-Bahn hielt erneut und Clarissa stieg aus. Nur ein paar Schritte, dann wäre sie in ihrer kuscheligen kleinen Wohnung angekommen und würde sich eine Kleinigkeit kochen und schauen, was der Abend noch so brachte. Doch was sollte er schon bringen, außer ein paar Stunden vor dem TV oder ein Buch zu lesen.
Am nächsten Abend hielt Clarissa in der S-Bahn nach den blauen Augen Ausschau, die sie in der vergangenen Nacht um den Schlaf gebracht hatten. Vielleicht würde der Mann mit diesen markanten Augen ja wieder zu dieser Zeit unterwegs sein, doch sie konnte ihn nicht ausmachen. Sie hatte heute auch keine Lust, sich zu den anderen Mitfahrenden eine Geschichte zu erdenken.
Vor ihr lag jetzt ein einsames Wochenende. Ihre Freundin hatte Dienst, somit konnten sie nichts gemeinsam unternehmen. Und ihre Eltern wohnten zu weit entfernt, um sie mal eben kurz zu besuchen. Clarissa hatte noch keine Idee, wie sie die Zeit verbringen wollte.
Als sie an diesem Abend ihrer Wohnung näher kam, sah sie einen Umzugswagen vor der Haustür stehen. Sollte vielleicht jemand die Wohnung neben ihr angemietet haben? Sie beschleunigte ihren Schritt, um der Sache auf den Grund zu gehen.
Neugierig ging sie die Stufen zur ersten Etage hoch. Die Tür zur Nachbarwohnung stand offen. Worte drangen an Clarissas Ohr. Kurz darauf erschien eine zeternde Frau im Türrahmen, die offensichtlich mit ihrem Mann, der sich noch im Flur befand, stritt. Der erste Eindruck, den sie von ihren neuen Nachbarn gewann, hätte besser sein können. Als sie den Schlüssel in ihre Wohnungstür steckte, wurde sie von hinten angesprochen.
„Entschuldigen Sie bitte, dass wir gerade ein bisschen laut waren.“
Clarissa drehte sich abrupt um und sah dem Mann direkt in die Augen.
„Macht nichts“, brachte sie kurz heraus.
„Sagen Sie, kennen wir uns?“, fragte der Mann.
Clarissa schüttelte den Kopf.
„Nein, ich glaube nicht.“
„Komisch, ich hatte gerade den Eindruck, Sie von irgendwoher zu kennen. - Entschuldigen Sie nochmals, aber meine Schwester mischt sich mal wieder in meine Angelegenheiten ein. Das kann sie einfach nicht lassen.“
In Clarissa stieg so etwas wie Freude auf.
„Wenn Sie später Lust auf ein Glas Wein haben, dann klingeln Sie doch einfach“, hörte sich Clarissa sagen.
„Sehr gerne“, sagte der neue Nachbar und seine markant blauen Augen strahlten mit Clarissa um die Wette.



Martina Pfannenschmidt, 2015