Zuckelnd
setzte sich die Straßenbahn in Bewegung. Viele Menschen waren wie Clarissa auf
dem Weg von ihrer Arbeitsstelle nach Hause. Wie dieses Zuhause der anderen
Menschen wohl aussah? Wie wohnte der Mann, der so griesgrämig schaute? Clarissa stellte sich eine schäbige alte
Wohnung vor, in der eine mürrisch drein blickende dicke Frau in einer viel zu
engen Leggings auf ihn wartete. Vielleicht stand sie gerade am Herd und rührte
in einem Topf mit Spaghetti. Im Mundwinkel eine Zigarette, deren Asche auf den
dreckigen und klebrigen Fußboden fiel. Am Bein hing ihr ein weinendes
Kleinkind, das sich gerade den Finger geklemmt hatte.
Oder
dort, das hübsche junge Mädchen, das eifrig Nachrichten auf seinem Handy
schrieb. Ob sie einen Freund hatte? Vielleicht hatte er ihr gerade eine
Liebesnachricht geschickt oder per SMS mit ihr Schluss gemacht. War sie eine
gute Schülerin, die das Gymnasium besuchte und beliebt war? Vielleicht war sie
Klassensprecherin und setzte sich für die Belange anderer ein. Genauso gut konnte
sie auch die größte Zicke der gesamten Schule sein.
Dort
die Hausfrau mit der Einkaufstasche.
Bestimmt hatte sie frisches Gemüse gekauft, aus dem sie gleich zu Hause
etwas Leckeres für ihre Familie zauberte.
Es war natürlich auch möglich, dass sie gerade eine Bank überfallen hatte und
sich in ihrer Tasche die Beute befand.
Clarissa
grinste. Mit Hilfe ihrer Gedanken erdachte sie sich zu den Mitfahrenden lustige
Geschichten. Sie hatte dabei das Gefühl, so ein kleines bisschen Schicksal zu
spielen. Ihr Blick wanderte weiter und blieb an zwei blauen Augen hängen.
Moment mal, wurde sie von diesen Augen, die zu einem gut aussehenden jungen
Mann gehörten, etwa beobachtet? Dieses blau faszinierte sie, machte ihr aber
auch ein bisschen Angst. Noch nie in ihrem Leben hatte sie solch eisblauen
Augen gesehen. Ein leichter Schauer lief über ihren Rücken. Vielleicht war er
ein Mörder, der sich ein neues Opfer suchte. Er würde doch nicht etwa sie im Visier haben? Clarissa, schalt
sie sich selbst: Du schaust zu viele Krimis. Der Mann sieht doch wirklich nett
aus. Aber warum schaut er dich so durchdringend an? Sie wagte erneut einen
Blick in seine Richtung. Da, er lächelte sie an. Warum lächelte er? War das ein
gutes Zeichen oder erriet er vielleicht ihre Gedanken und war von ihnen
belustigt? Es war ja auch möglich, dass er gar kein Mörder war, sondern ein
netter Familienvater. Bestimmt wohnte er in einem kleinen Haus am Stadtrand und
im Garten standen für die Kinder eine Schaukel und ein Sandkasten. Ach, es war
herrlich, sich das Leben anderer Menschen vorzustellen.
Manchmal
erdachte sie sich auch ihr eigenes Leben, stellte sich vor, wie es sein würde,
endlich einen Mann an ihrer Seite zu haben. Leider war sie bisher nur an die
falschen Männer geraten. Das sollte ihr nicht noch einmal passieren.
Die
Bahn hielt. Der Mann, der zu den eisblauen Augen gehörte, erhob sich und stieg
aus. Dann wohnte er wohl doch nicht am Stadtrand, sondern in einer kleinen
Mietwohnung, so wie sie. Vielleicht gab es auch gar keine Frau in seinem Leben.
Ach,
es wäre einfach zu schön, könnte man sich nur mit Hilfe seiner Gedanken sein
Leben zu Recht zimmern. Wenn es so wäre, dann wünschte sie, dieser junge Mann
hätte sie angesprochen und auf ein Glas Wein eingeladen oder noch besser, sie
käme nach Hause und er wäre in die leer stehende Nachbarwohnung eingezogen.
Dann wohnte sie Tür an Tür mit ihm. Ein verlockender Gedanke. Vielleicht würde
sich daraus eine Liebesgeschichte ergeben. Aber leider spielte das Leben ja
nach seinen eigenen Regeln.
Die
S-Bahn hielt erneut und Clarissa stieg aus. Nur ein paar Schritte, dann wäre
sie in ihrer kuscheligen kleinen Wohnung angekommen und würde sich eine
Kleinigkeit kochen und schauen, was der Abend noch so brachte. Doch was sollte
er schon bringen, außer ein paar Stunden vor dem TV oder ein Buch zu lesen.
Am
nächsten Abend hielt Clarissa in der S-Bahn nach den blauen Augen Ausschau, die
sie in der vergangenen Nacht um den Schlaf gebracht hatten. Vielleicht würde
der Mann mit diesen markanten Augen ja wieder zu dieser Zeit unterwegs sein,
doch sie konnte ihn nicht ausmachen. Sie hatte heute auch keine Lust, sich zu
den anderen Mitfahrenden eine Geschichte zu erdenken.
Vor
ihr lag jetzt ein einsames Wochenende. Ihre Freundin hatte Dienst, somit
konnten sie nichts gemeinsam unternehmen. Und ihre Eltern wohnten zu weit
entfernt, um sie mal eben kurz zu besuchen. Clarissa hatte noch keine Idee, wie
sie die Zeit verbringen wollte.
Als
sie an diesem Abend ihrer Wohnung näher kam, sah sie einen Umzugswagen vor der
Haustür stehen. Sollte vielleicht jemand die Wohnung neben ihr angemietet
haben? Sie beschleunigte ihren Schritt, um der Sache auf den Grund zu gehen.
Neugierig
ging sie die Stufen zur ersten Etage hoch. Die Tür zur Nachbarwohnung stand
offen. Worte drangen an Clarissas Ohr. Kurz darauf erschien eine zeternde Frau
im Türrahmen, die offensichtlich mit ihrem Mann, der sich noch im Flur befand,
stritt. Der erste Eindruck, den sie von ihren neuen Nachbarn gewann, hätte
besser sein können. Als sie den Schlüssel in ihre Wohnungstür steckte, wurde
sie von hinten angesprochen.
„Entschuldigen
Sie bitte, dass wir gerade ein bisschen laut waren.“
Clarissa
drehte sich abrupt um und sah dem Mann direkt in die Augen.
„Macht
nichts“, brachte sie kurz heraus.
„Sagen
Sie, kennen wir uns?“, fragte der Mann.
Clarissa
schüttelte den Kopf.
„Nein,
ich glaube nicht.“
„Komisch,
ich hatte gerade den Eindruck, Sie von irgendwoher zu kennen. - Entschuldigen Sie
nochmals, aber meine Schwester mischt sich mal wieder in meine Angelegenheiten
ein. Das kann sie einfach nicht lassen.“
In
Clarissa stieg so etwas wie Freude auf.
„Wenn
Sie später Lust auf ein Glas Wein haben, dann klingeln Sie doch einfach“, hörte
sich Clarissa sagen.
„Sehr
gerne“, sagte der neue Nachbar und seine markant blauen Augen strahlten mit
Clarissa um die Wette.
Martina
Pfannenschmidt, 2015