Donnerstag, 9. November 2017

Nichts geschieht aus Zufall

„Was meinst du, Omi“, fiel Kathrin sogleich mit der Tür ins Haus, „wen ich eben beim Einkaufen getroffen habe?“
„Soll ich es erraten oder willst du es mir erzählen?“
„Ich verrate es lieber gleich, du wirst sowieso nicht darauf kommen. Wir haben Tobias getroffen. Du weißt doch, den Tobias der weggezogen ist. Seine Eltern haben ihn heute zu seiner Oma gebracht und jetzt bleibt er eine Woche. Wir haben uns gleich für morgen im Freibad verabredet. Ist das nicht ein großer Zufall, dass wir uns dort begegnet sind?“, fragte Kathrin und freute sich riesig über das unvorhersehbare Zusammentreffen.
„Ich freue mich für dich. Sicher werdet ihr ein paar schöne Ferientage miteinander verbringen können. Das ist wirklich toll.“
„Ich kann es noch gar nicht fassen, dass wir uns gerade dort getroffen haben“.
„Weißt du Kathrin, solche Fügungen wird es in deinem Leben noch oft geben.“
„Fügungen? Was bedeutet das?“
„In meinen Augen ist es nur ein anderes Wort für Zufall. Schau es dir einmal genauer an, dieses Wort“, bat Oma und sprach es noch einmal sehr deutlich aus und so, als seien es zwei Wörter, „Z u und F a l l ! Es fällt uns also etwas zu. Doch woher fällt es uns zu, hast du eine Idee?“
„Nee, keine Ahnung!“
„Es gibt einen sehr schönen Spruch von Anatole France: ‚Der Zufall ist Gottes Deckname, dann, wenn er sich nicht zu erkennen geben will’!“
„Also ehrlich Omi, ich verstehe es nicht. Du sprichst in Rätseln.“
„Pass auf: Es kam zu dieser Begegnung, will uns dieser Spruch sagen, weil Gott dahinter steckt. Er hat für dieses Zusammentreffen gesorgt.“.
„Ui! Meinst du wirklich?“
„Ja, das denke ich. Schau dir nur einmal alle Ehepaare dieser Welt an. Denkst du, sie haben sich alle zufällig irgendwo getroffen, um für immer zusammen zu bleiben? Und später bekommen sie ganz zufällig Kinder, die natürlich auch aus lauter Zufall geboren werden? Niemals glaube ich das. Da wird schon eine höhere Macht dahinter stecken und zwei Menschen zusammen führen. Vielleicht sogar, damit genau dieses Kind oder diese Kinder geboren werden können.“
Darüber hatte Kathrin noch nie nachgedacht.
„Schau mal“, fügte Oma noch an, „ich habe dir doch erzählt, wie dein Opa Walter und ich uns damals auf dem Jahrmarkt wieder getroffen haben. Das war auch kein ‚Zufall’ oder eben doch, nämlich in dem Sinne, dass es uns als Gabe Gottes zugefallen ist, uns dort zu begegnen.“
Oma sah es Kathrins Nasenspitze an: Sie war noch nicht so ganz überzeugt von dem, was sie ihr zu erklären versuchte. Deshalb fragte sie: „Soll ich dir noch so eine Zufallsgeschichte erzählen?“
Die wollte Kathrin gerne hören.
„Also das war so. Ein hübsches junges Mädchen machte mit seiner Freundin einen Tanzkurs. Dort waren genau so viele Jungen wie Mädel, so dass jeder einen Tanzpartner bekam. Das junge Fräulein, von dem ich erzähle, sah dort einen jungen Mann und verliebte sich in ihn. Die Beiden tanzten oft zusammen. So besonders gut klappte dies allerdings nicht. Der Junge war kein guter Tänzer. Doch das war dem Mädchen egal. Hauptsache, es konnte in seiner Nähe sein. Der Abschlusstag kam näher. Die jungen Menschen waren alle aufgeregt und hatten sich besonders schick gemacht. Die Eltern waren eingeladen, um zu sehen, ob aus ihren Kindern gute Tänzer geworden waren. Also traf sich an diesem Samstagabend eine elegante Gesellschaft zum Ball. Die junge Dame sah sich überall suchend um. Den jungen Mann in den sie verliebt war und mit dem sie den Eröffnungstanz machen wollte, konnte sie aber nicht finden. Plötzlich kam der Tanzlehrer zu ihr und sagte, dass ihr Tanzpartner mit einem Beinbruch im Krankenhaus läge. Für das Mädchen brach eine Welt zusammen und es war sogleich in Tränen aufgelöst. Der Tanzlehrer und auch die Eltern versuchten zu trösten. Das Mädel hatte sich doch so auf diesen Abend und den jungen Mann gefreut.“
„Omi“, unterbrach Kathrin ihre Großmutter vorwurfsvoll, „es ist bis jetzt in deiner Geschichte noch kein einziger Zufall vorgekommen.“
„Nein, bis jetzt noch nicht. Aber warte es ab. Nachdem das Mädchen sich etwas beruhigt hatte erklärte der Tanzlehrer, dass er sich natürlich sofort um einen Ersatz bemüht habe. In einer anderen Gruppe gäbe es einen ganz tollen Tänzer und der würde gleich einspringen.“
„Und dieser Ersatzmann“, unterbrach Kathrin ihre Oma schon wieder, „war der jetzt der Zufall?“
„Ja, meine liebe Kathrin. Dieser Ersatzmann war nicht nur ‚der Zufall’, sondern ein Glücksfall! Das Mädchen fand ihn sofort sympathisch und so hatte es den anderen Jungen recht schnell vergessen. Dieser Ersatzmann sah nicht nur hervorragend aus, er konnte sogar noch viiieeel besser tanzen! Die junge Dame war ganz begeistert und sofort frisch verliebt.“
„Omi, du hast mir die ganze Zeit noch nicht verraten, von wem du erzählst. Das will ich jetzt aber auch noch wissen. Oder kenne ich die Beiden etwa gar nicht?“
„Oh doch, du kennst sie. Ziemlich gut sogar. Sie wurden ein Paar, heirateten einige Jahre später und bekamen eine süße kleine Tochter und die nannten sie … willst du es erraten oder soll ich es dir sagen?“
„Omi, du sollst es endlich sagen.“
„Sie bekamen eine süße kleine Tochter“, wiederholte Oma, um ihre Enkelin noch ein bisschen auf die Folter zu spannen, „und nannten sie … Kathrin.“
„Mama und Papa?“
„Ja, deine Eltern haben sich so kennen gelernt. Und wenn dieses Zusammentreffen nun ‚nur’ ein Zufall und keine Fügung war, wäre ihre Liebe ein Zufall und du auch. Glaube mir, mein Kind, so viele Zufälle kann es gar nicht geben, da steckt schon mehr dahinter.“
„Oh man Omi, überleg mal, was Gott alles organisieren muss damit wir Menschen uns alle zufällig treffen“.
„Wo du recht hast, hast du recht“, antwortete Oma, "doch er hat ja seine Helfer die wir Engel nennen, aber das ist wieder eine andere Geschichte."


© Martina Pfannenschmidt, 2015