Donnerstag, 9. November 2017

Mit Speck fängt man Mäuse

Vorsichtig klopfte Oma an Kathrins Zimmertür. Von drinnen hörte sie ein wehleidiges: "Herein!"
„Hallo, mein krankes Mäuschen, darf ich eintreten?“ Kathrin nickte und Oma ging zu ihr ans Bett.
„Tut dir der Hals immer noch so doll weh?“, erkundigte sie sich fürsorglich.
Wieder kam nur ein Nicken. „Dann gehe ich wohl lieber wieder, damit du dich gesund schlafen kannst“.
„Nein, bitte bleib! Mir ist langweilig.“
„Auch das noch, was können wir denn nur dagegen tun?“
„Ich hätte vielleicht eine Idee! Hol dir dort den Stuhl und dann erzählst du mir von früher, als du noch ein Kind warst.“
Natürlich ging Oma auf diesen Wunsch ein. Sie zog den Stuhl dicht ans Bett heran und überlegte, was sie erzählen könnte.
„Ich erinnere mich“, begann sie und nahm die vom Fieber heiße Hand ihrer Enkelin, um sie in ihre Hände zu legen, „dass ich auch in jedem November krank im Bett lag. Das machte mich manchmal richtig wütend. Was hat der November nur gegen mich, dachte ich. Immer schickt er mir so eine blöde Krankheit.“
 „Omi, der Monat war doch nicht schuld, dass du krank warst!“.
„Was bist du doch für ein schlaues Kind“, foppte Oma ihre Enkelin. „Meine Mama hat genau wie deine immer versucht, mir mit alten Hausmitteln zu helfen.“
„Was sind denn alte Hausmittel?“
„Das sind keine vom Arzt verordneten Medikamente, die chemisch hergestellt werden, sondern es sind Dinge, die sich im Haushalt finden lassen. So hilft Honig gegen Husten und bei einer Erkältung tut eine Hühnersuppe gut. Neben meinem Bett stand ein Schälchen mit einer Zwiebel. Darauf war brauner Kandis gestreut. Der Geruch befreite die Nase und den Sud, der sich bildete, bekam ich gegen meinen Husten. Es gab aber auch Speck für mich.“
„Speck? Ich denke, mit ihm fängt man Mäuse, oder nicht Omi?“
„Ja, mit Speck fängt man Mäuse. Das stimmt wohl. Aber ich bekam ihn aus einem anderen Grund, nämlich für oder besser gesagt gegen meine Mandelentzündung.“
„Das glaube ich dir nicht. Jetzt flunkerst du, Omi“.
„Doch es ist wahr. Meine Mama schnitt ihn in hauchdünne Streifen, legte ihn auf ein Tuch und dieses bekam ich zusammen mit einem dicken, warmen Schal um den Hals gelegt.“
„Ach du meine Güte, das war aber eklig!“. Kathrin schüttelte sich ein wenig bei der Vorstellung.
„Geht so, ein ganz kleines bisschen vielleicht. Wenn sich der Speck am Hals erwärmte, roch es etwas unangenehm. Doch das war nicht so schlimm. Ich wusste ja, am nächsten Tag würde es mir dadurch besser gehen. Der Speck zog die Entzündung heraus. Zumindest hat meine Mutter es immer so gesagt.“
„Aber die feucht-warmen Halswickel von Mama, die helfen auch“, erklärte Kathrin schnell. Sie hatte wohl Angst, Oma käme sonst auf die Idee, ihr auch Speck um den Hals zu wickeln.
„Du siehst“, kam Oma auf die alten Hausmittel zurück, „einige Dinge von damals haben bis heute Bestand, doch manches hat sich auch sehr verändert.“
„Was denn, Omi?“
„Na, zum Beispiel hatte ich kein so schönes Zimmer wie du. Ich musste ein Zimmer mit meiner Schwester, Tante Alma, teilen. Dort standen nur unsere beiden Betten und ein Kleiderschrank. Um dort zu spielen, war es viel zu kalt. Wir hatten noch keine Heizung, so wie du es heute kennst. Bei uns standen Öfen in einigen Räumen, die mit Holz und Kohle beheizt wurden. Im Winter war es meistens nur in einem Zimmer richtig schön warm. Dort traf sich die ganze Familie. Weißt du Kathrin, wir hatten auch noch keinen Fernseher, als ich klein war. Nur ein Radio um die Nachrichten zu hören. Ansonsten hat man sich unterhalten oder gemeinsam musiziert. In dem Raum habe ich oft unter dem Tisch hockend mit meiner Puppe gespielt. Oder wir spielten alle zusammen ‚Mensch-ärgere-dich-nicht’ oder Karten.“
„Es gab keinen Fernseher? Das finde ich blöd. Aber wenn ihr alle zusammen gespielt habt, war das bestimmt toll.“
„Das war es. Weißt du, die Menschen hatten viel mehr Zeit als heute. Besonders im Winter. Es war so urgemütlich in der Stube wenn alle zusammen waren. Einfach richtig schön.“
„Heute bist du oft alleine, Omi!“
„Mach dir darüber keine Gedanken. Auch wenn wir heute nicht mehr alle in einem Raum zusammen sind, so gibt es doch ein Zusammengehörigkeitsgefühl das schön ist.“
Oma fuhr mit ihren Erinnerungen an ihre Kindheit fort.
„Die anderen Räume, zum Beispiel die Schlafzimmer oder der Flur wurden nicht beheizt. Dort war es bitterkalt. Tante Alma und ich waren froh über die Wärmflaschen, die uns unsere Mutter an jedem Abend ins Bett legte. Die Fenster waren auch noch nicht so dicht wie heute. Manchmal spürte man den kalten Wind durch die Ritzen pfeifen und Papa musste sie mit Zeitungspapier ausstopfen. Das sah nicht so schön aus, aber es gab etwas, das war wunderschön!“
„Was denn Omi, erzähl! Was war es?“
„An den Fenstern, die nur aus einer einzigen dünnen Glasscheibe bestanden, zeigten sich wunderschöne Eiskristalle. Sie sahen aus wie von der Eisprinzessin höchst persönlich ans Fenster gezaubert. Es waren herrliche Muster, die wie Eisblumen aussahen. Manchmal waren die Scheiben sehr vereist. Man konnte gar nicht hindurchblicken. Wollte man schauen ob es schneite, musste man eine Stelle anhauchen und mit der warmen Hand ein wenig an der Stelle reiben, bis man mit einem Auge einen Blick nach draußen hatte.“
„Das war bestimmt schön. Ich habe noch nie so ein vereistes Fenster gesehen. Aber ehrlich gesagt, finde ich es noch viel schöner, dass es heute überall in der ganzen Wohnung warm ist. Du auch, Omi?“
„Ja, ich auch! Und nun werde ich wieder in meine warme Stube gehen. Vorher sage ich jedoch deiner Mama Bescheid, dass du ganz rote Fieberbäckchen hast. Dann wird sie kommen und Wadenwickel machen.“
Als Oma zur Tür ging, drehte sie sich noch einmal um und winkte Kathrin aufmunternd zu.
Die Wadenwickel werden ihr helfen, dachte Oma‚ und auch die liebevolle Zuwendung ihrer Mutter.


© Martina Pfannenschmidt, 2015