Freitag, 10. November 2017

Mit dem Leben fließen!

Wann immer es ihre Zeit zuließ, surfte Anja im Internet. Es war einfach ihre liebste Freizeitbeschäftigung. Immer wieder stieß sie dabei auf Blogs, die ihr Interesse weckten. Zielsicher steuerte sie einen Blog an, auf dem es immer wieder kleine Geschichten zu lesen gab. Die neueste Geschichte trug den Titel:  

Mit dem Leben fließen!

Millionen kleiner Wassertropfen hüpften vergnügt aus der Tiefe der Erde ans Tageslicht. Fröhlich und gleichzeitig ein bisschen aufgeregt, sprangen sie umher. Schließlich kannten sie weder das Ziel, noch wussten sie um den Weg, der nun vor ihnen lag. Auch ahnten sie nichts von all den Abenteuern, die das Leben für sie vielleicht bereithalten würde. Und so entfernten sie sich - zum Teil ein bisschen hektisch - von der Quelle fort.
Mitten in diesem Tumult befand sich Bärbel, ein äußerst ängstlicher kleiner Tropfen, dem das alles nicht geheuer war. Viel zu gerne wäre sie unter der Erde geblieben. Dort war ihr alles so bekannt. Diese Ungewissheit über das, was jetzt auf sie zukam, machte sie nur noch furchtsamer. Alles war fremd und das helle Sonnenlicht gefiel ihr schon gar nicht. Sie hatte gehört, dass die Sonne in der Lage war, Tropfen zu sich in die Höhe zu ziehen. Das war Bärbel unheimlich. Schließlich war sie nicht schwindelfrei.
Ein kleiner Stein stellte sich ihr in den Weg. Vielleicht würde es ihr gelingen, sich an ihm festzuhalten. Wenn sie hätte wählen können, wäre sie am liebsten zurück zur Quelle getrieben. Doch das war schier unmöglich.
„He, Bärbel“, rief Max, als er an ihr vorbei kraulte, „was machst du denn da? Lass los und komm einfach mit.“
„Ich kann nicht“, rief Bärbel ihm nach und klammerte sich nur noch fester um den Stein. Kurz darauf war von Max nichts mehr zu sehen. Das ging Bärbel alles viel zu schnell. Sie wollte dort bleiben, wo sie sicher war und dieser Platz hier hinter dem Stein schien ihr sicher.
Unerwartet traf sie ein Schatten. Bärbel sah hoch und erschrak furchtbar. Eine Kuh stand direkt über ihr, um ihren Durst mit dem frischen Wasser zu stillen. Gerade noch rechtzeitig ließ Bärbel los, sonst wäre sie ihr zum Opfer gefallen. So wollte sie auf keinen Fall enden. Das war ein ganz schrecklicher Gedanke, im Magen einer Kuh zu landen. Bald darauf stieg zum ersten Mal ein Gefühl in ihr auf, das ihr neu und fremd war. Sie verspürte so etwas wie Freiheit. Aber auch das machte ihr zunächst einmal Angst. Sie wusste ja nicht, was es bedeutet, frei zu sein.
Irgendwann ließ sie sich jedoch gemeinsam mit all den anderen Tropfen treiben. Sie zogen an großen Städten vorüber, sahen riesige Schiffe in den Häfen liegen, wunderschöne Schlösser auf den Bergen und sie lachten über die Menschen, die am Ufer standen und sich nicht ins kühle Nass trauten.
Im Laufe der Zeit freundete sich Bärbel mit einigen anderen Tropfen an und so kam es, dass eines Tages der weise Nepomuk in ihr Leben trat. Er lehrte sie, dass es wichtig war, auf seinem Weg nicht nur Erfahrungen zu sammeln, sondern etwas aus ihnen zu lernen. Der Schlüssel zur Weisheit lag laut Nepomuk darin, alle Erlebnisse wie ein Schwamm in sich aufzusaugen und daraus seine Erkenntnisse zu ziehen. Doch die wertvollsten Sätze, die Bärbel von ihm gehört hatte, waren diese: „Alle, die glauben, allein zu sein, haben es schwer. Erst wenn man erkennt, dass man nicht alleine ist, sondern dass alle Tropfen gemeinsam etwas Großes bilden, wird man sich niemals einsam fühlen“. Und anschließend hatte er hinzugefügt: „Schau dich um! Du bist ein Tropfen und ich bin es auch. Gemeinsam mit allen unseren Brüdern und Schwestern neben uns bilden wir etwas Großes. Du darfst ruhig ein bisschen stolz darauf sein, ein Teil davon zu sein. Stell dich nicht gegen den Lauf der Dinge. Unser Leben wird sich stetig verändern, doch es wird niemals ein Ende haben. Lass dich treiben. Genieße jeden Moment und freue dich an deinem Sein.“

Nachdem Anja die Geschichte zu Ende gelesen hatte, blieb sie noch einen kleinen Moment nachdenklich vor ihrem Laptop sitzen. Sie sah Parallelen zu ihrem eigenen Leben, über die sie nachdenken wollte. Auch sie war oft furchtsam und ließ das Leben nicht fließen. Doch dort, wo Gefühle stocken, entstehen Blockaden. Und die können einem das Leben wirklich schwer machen.  

Anja hatte so ihre Probleme mit all den vielen Veränderungen, die das Leben ständig mit sich brachte. Die Kinder zum Beispiel, die so schnell erwachsen geworden waren. Sie loszulassen, sie ihr eigenes Leben meistern zu lassen, wollte ihr nur schwer gelingen. Doch man konnte das Leben nicht aufhalten und nicht anhalten. Nepomuck, der weise Tropfen aus der Geschichte, hatte Recht. Sich gegen das Leben zu stellen, war sinnlos. Vielleicht würde es ihr eines Tages gelingen, dies zu verinnerlichen und sich dem Fluss des Lebens nicht entgegen zu stellen.

Doch eine Frage blieb: Alle Tropfen gemeinsam bilden eines Tages das Meer, aus dem sie wieder aufsteigen und ihren Weg von vorne beginnen. Und wie ist das mit uns Menschen? Bilden wir alle gemeinsam auch etwas Großes, Gewaltiges, von dem wir nicht einmal ahnen?

© Martina Pfannenschmidt, 2016