Oma setzte sich in ihren Sessel und schloss die
Augen. Ihre Gedanken gingen dabei zurück zu ihrer Nachbarin aus Kindertagen.
Sie hatte keine eigenen Kinder gehabt, doch einsam war sie dennoch nicht
gewesen. Die Nachbarkinder gingen ständig bei
ihr ein und aus.
Für sie alle war die liebe Nachbarin ‚Tante
Marie’. Bei ihr gab es meistens etwas zu schlickern¹. Heiß geliebt waren Brausepulver
und Klümpchen².
Wenn Tante Marie gar nichts Süßes fand, gab es ein
Brot mit Honig oder Rübenkraut³. Das war lecker! Die Kinder hatten anschließend
immer einen dunklen Sirupbart. Doch wen störte es? Sie waren sowieso alle
dreckig vom Spielen draußen.
Zur Mittagszeit war ein Besuch bei Tante Marie
allerdings unangebracht. Nach dem Mittagessen setzte sie sich in ihren Sessel um auszuruhen. Dabei schloss sie die Augen und
meistens schlief sie ein.
Die Kinder schlichen in dieser Zeit hinter dem
Fenster her und schauten von dort ins Zimmer. Sobald Tante Marie die Augen wieder
geöffnet hatte, gab es kein Halten mehr und sie gingen ins Haus. Eine
abgeschlossene Haustür kannte man damals in einem Dorf noch nicht.
Jetzt geht es mir genau so, wie der Nachbarin
früher, dachte Oma. Ich ruhe mich nach dem Mittagessen auch gerne ein wenig
aus.
Täuschte sie sich, oder wurde ihre Tür seeehr
vorsichtig geöffnet?
„Omi“, flüsterte jemand.
Oma tat so, als würde sie nichts hören.
Eine Weile später wurde ihr auf die Schulter
getippt: „Omi, schläfst du?“
„Buh“, machte Oma und freute sich, weil sie ihre
Enkeltochter erschreckt hatte.
„Das war gemein von dir“, pflaumte Kathrin.
„Entschuldige bitte. Nein, ich habe nicht
geschlafen, nur gedöst, wie man so sagt und ich war in meinen Gedanken in der
Vergangenheit.“
„Omi, sonst höre ich mir ja gerne deine
Kindheitsgeschichten an, aber jetzt gerade nicht!“
„Gibt es einen Grund?“, erkundigte sich Oma.
„Ja! Ich wollte dich nämlich fragen, ob du
vielleicht Eishunger hast.“
„Eishunger?“
„Es ist doch heute so warm und wir haben kein Eis
mehr im Gefrierschrank und da dachte ich, vielleicht hättest du auch Eishunger
und würdest mit mir ein Eis essen gehen.“
„Wenn ich es mir so recht überlege, bekomme ich
gerade einen rieeesigen Eishunger.“
„Toll! Dann komm, Omi!“
„Nun mal langsam. So schnell geht das nicht.
Außerdem müssen wir noch klären, wer wen einlädt“, scherzte Oma.
„Nee, das ist klar! Du lädst mich ein, weil ich
nämlich nicht so viel Taschengeld bekomme.“
„Na gut, überredet. Warte, ich ziehe mir gerade
Schuhe an und hole meine Handtasche, dann können wir los.“
Eine Weile später saßen die Beiden in einer
Eisdiele. Kathrin aß ein Spaghetti-Eis und Oma trank einen Eiskaffee. Es war
schön in der Sonne zu sitzen und die Menschen zu beobachten die vorbeigingen.
Eine Mutter setzte sich mit ihren beiden Kindern
an den Nachbartisch. Etwas später gesellte sich ein älterer Herr dazu.
Oma bemerkte, dass Kathrin den Mann nicht aus den
Augen ließ. Doch sie fragte nichts – noch nicht. Das änderte sich allerdings,
als sich die Beiden auf dem Heimweg befanden.
„Du Omi, hast du den Mann am Nachbartisch
gesehen?“
„Ja, natürlich. Weshalb fragst du?“
„Hast du gesehen, dass seine Haare ganz weiß waren
und auch seine Haut? Ich fand, der sah irgendwie komisch aus!“
„Komisch fand ich ihn nicht. Er sah nur ein wenig
anders aus, als die meisten Menschen. Weißt du, bei dem Mann liegt eine
Pigmentstörung vor. Die gibt es auch bei Tieren.
Erinnerst du dich an den weißen Tiger im Zoo? Und bestimmt hast du auch schon
einen weißen Hasen mit roten Augen gesehen. Man nennt sie Albinos.“
„Ja, ich weiß. So ein Häschen kenne ich. Aber ich
wusste nicht, dass es auch so helle Menschen geben kann.“
„Doch. Es gibt auch Menschen mit dieser
Besonderheit. Ihre Haut und auch die Augen sind sehr empfindsam gegen die Sonne.
Deshalb schützen sie diese mit einer dunklen Brille. Sogar bei ganz
dunkelhäutigen Menschen kommt es vor, dass eine Mama ein weißes Baby bekommt.“
„Omi, es ist schon toll, was es in der Natur so
alles gibt.“
„Ja, das stimmt wohl. Es gibt so viele ganz
unterschiedliche Geschöpfe und alle haben ihre Berechtigung.“
„Und ihre Farbe“, ergänzte Kathrin.
„Ja genau!“, bestätigte Oma. „Der Himmel ist so
herrlich blau und auch das Meer und denk an das saftige Grün der Wiesen und
Wälder.“ Oma schwelgte geradezu in den Farben.
„Und im Meer gibt es so viele bunte Fische“,
erwähnte Kathrin.
„Und denk nur an die farbenfrohen Blumen auf den
Wiesen und in den Gärten. Rot, gelb, blau, lila! Es gibt keine einzige Farbe,
die in der Pflanzenwelt nicht vertreten wäre“, freute sich Oma.
Kathrin überlegte kurz: „Die Welt ist wirklich
kunterbunt und das ist ja auch ΄ne Farbe.“
„Das ist sogar die allerschönste Farbe, die man
sich denken kann“, schmunzelte Oma.
©
Martina Pfannenschmidt, 2015
Erklärung der
ostwestfälischen Ausdrücke
schlickern¹ = naschen
Klümpchen² = Bonbons
Rübenkraut³ =
Zuckerrübensirup