Donnerstag, 9. November 2017

Kein Anschluss unter dieser Nummer

„Onkel Henrik hat gerade eine Nachricht geschickt. Das Baby ist angekommen“, verkündete Kathrin.
„Wie schön“, freute sich Oma, „ist es ein Junge oder ein Mädchen?“
„Ein Mädchen und es heißt Charlotta“, erwiderte Kathrin voller Stolz jetzt eine Cousine zu haben.
„Der Name gefällt mir. Ich glaube, eine Charlotta ist ein Mädchen, das sich nicht unterkriegen lässt. Der Name klingt so, als würde sie ein keckes und aufgewecktes Kind werden.“
„Schau Omi“, forderte Kathrin ihre Großmutter auf und zeigte ihr das erste Foto, das Charlottas Vater vom Handy aus von der kleinen Dame gemacht hatte.
„Ist das nicht unglaublich, dass wir die Kleine jetzt schon sehen können?“
„Nö“, meinte Kathrin, „es ist ganz normal. Heute hat doch jeder ein Fotohandy.“
„Nö“, erwiderte Oma scherzend, „nicht jeder.“
Oma besaß zwar ein Handy, doch es war das ausrangierte ihrer Tochter.
 „Soll ich dir mal erzählen, wie das damals war, als ich geboren wurde?“, fragte Oma.
„O ja!“
„Also das war so: Zunächst einmal bin ich nicht im Krankenhaus geboren, sondern zu Hause. Damals kam eine Hebamme zu uns ins Haus. Hebammen sind Frauen, die bei der Geburt eines Kindes helfen. Auch heute noch. Doch damals war es schwierig, die Geburtshelferin meiner Mutter zu erreichen. Kaum jemand besaß ein Telefon“.
„Wie“, fragte Kathrin ungläubig, „ihr hattet kein Telefon?“
„Nein, damals noch nicht. Das einzige Telefon in der ganzen Straße gab es bei unserem Nachbarn, der gegenüber von uns wohnte. Dorthin gingen wir und baten darum, es benutzen zu dürfen. Anschließend bezahlten wir das Gespräch mit 20 Pfennigen.“
„Das war ja peinlich“, fand Kathrin.
„Nein, nein!“, widersprach Oma vehement. „Das war ganz und gar nicht peinlich. Aber man überlegte schon ganz genau, wie dringend der Anruf war und in diesem Fall war er unumgänglich. Ich sollte ja geboren werden.“
„Aber die Hebamme, die hatte ein Handy – oder Omi?“.
„Ich weiß“, meinte Oma verständnisvoll, „du kannst dir ein Leben ohne diese mobilen Telefone gar nicht vorstellen, doch als ich geboren wurde, waren sie noch gar nicht erfunden.“
„Aber elektrisches Licht hattet ihr schon oder gab es das auch noch nicht?“, fragte Kathrin mehr scherzend als fragend.
„Du kleiner Schlingel! Doch, elektrisches Licht gab es schon, nur eben noch kein Handy und nicht in jedem Haus ein Telefon.“
„Dann kam also die Hebamme. Hatte sie  überhaupt ein Auto?“.
„Ja, sie hatte ein Auto, ein ganz kleines, ein so genanntes Goggomobil, das von allen nur kurz ‚Goggo’ genannt wurde“.
Kathrin lachte auf, als sie diesen Namen hörte, doch sie verkniff sich jeglichen Kommentar, damit Oma weiter erzählen konnte.
„Die Geburtshelferin hatte es an dem Tag ziemlich eilig. Einige Straßen weiter wollte zur selben Zeit noch ein Kind zur Welt kommen. Sie fuhr also mit ihrem kleinen Auto von einer werdenden Mama zur anderen. Es ging aber alles gut und so erblickten zwei süße Babys das Licht der Welt und eines davon war ich.“
„Bestimmt ist dein Papa anschließend zu dem netten Nachbarn mit dem Telefon gegangen und hat alle angerufen und von dir erzählt, nicht wahr“.
„So stellst du dir das vor. Doch der Rest unserer Familie hatte ja auch kein Telefon, weder die Eltern meiner Mama, noch die meines Papas. Es konnte also niemand auf diese Weise erreicht werden.“
„Ach du Schreck, das war ja wie im Mittelalter.“
„Ja, das könnte man fast meinen, doch ganz so alt bin ich nun auch wieder nicht“, erwiderte Oma mit einer gespielten Entrüstung. Kathrin schämte sich ein kleines bisschen. So hatte sie es gar nicht gemeint. Das wusste ihre Großmutter natürlich.
„Wie haben die anderen denn davon erfahren, dass du geboren warst? Haben deine Eltern Briefe geschrieben?“
„Nein, sie haben zunächst einmal ein Telegramm geschickt. Ein Brief war fast vier Tage unterwegs, bis er endlich an seinem Ziel ankam und damals warteten die Großeltern auch ungeduldig auf die Nachricht von der Geburt ihres Enkelkindes“.
„Sie haben ein Telegramm geschickt“, sagst du. „Was ist das denn nun wieder?“
„Wenn etwas ganz Besonderes geschehen war und eine wichtige Nachricht zu verschicken war, gingen die Leute zum Postamt. Die Angesellten dort nahmen die Anschrift des Empfängers auf und den Text der Nachricht. Der wurde mittels eines Fernschreibers zum Postamt des Ortes geschickt, wo der Empfänger wohnte. Weil aber jedes einzelne Wort bezahlt werden musste, fasste man sich besonders kurz. Also nicht so wie heute bei deinem Onkel, der den Namen, die Größe, das Gewicht und die Uhrzeit der Geburt mitgeteilt hat. Damals schrieben die Menschen im so genannten Telegrammstil, was nichts anderes bedeutet, als dass man sich extrem kurz fasste.“
„Lass mich raten, was dein Papa geschrieben hat“, fiel Kathrin nun Oma ins Wort. „Kind geboren, Mädchen.“
Oma lachte laut auf. „Ja, so ähnlich wird es gewesen sein, doch ich vermute, den Namen werden sie schon noch verraten haben.“
„Weißt du Omi, ich finde es wirklich spannend, was du von früher erzählst, auch wenn ich mir manches nicht so vorstellen kann. Wann haben deine Eltern denn überhaupt ein Telefon bekommen?“
„Oh, da war ich schon acht oder neun Jahre alt. Mein Vater bekam damals einen neuen Arbeitsplatz und sollte rund um die Uhr erreichbar sein. Deshalb erhielten wir ein Telefon. Doch wir durften immer nur ganz kurze Gespräche führen. Die waren zum einen recht teuer, vor allen Dingen die Ferngespräche. Zum anderen durfte der Anschluss nicht so lange besetzt sein, da es ja ein Diensttelefon war. Aber trotzdem war es klasse, ein eigenes Telefon zu haben.“
„Und ab dann kamen die anderen Nachbarn auch zu euch zum Telefonieren“, mutmaßte Kathrin.
 „Nein, so war es nicht. Die Post stellte Telefonzellen auf. Das waren kleine gelbe Häuschen, die an der Straße standen und in denen ein Telefonapparat hing. Man warf dort Münzen ein und konnte so lange telefonieren bis das Geld verbraucht war. Es gab aber in unserem kleinen Dorf nur eine einzige Telefonzelle. Deshalb bildeten sich oftmals lange Schlangen davor und jeder konnte das Gespräch, das geführt wurde, mithören.“
Wie auf Kommando klingelte in dem Moment Omas Telefon.
„Wie gut, dass wir jetzt alle ein Telefon haben und ein Handy, nicht wahr, Omi?“
Kathrin warf ihrer Großmutter noch eine Kusshand zu und rief im Hinausgehen verschmitzt: „Tschüß, und quatsch nicht wieder so lange!“


© Martina Pfannenschmidt, 2015