Freitag, 10. November 2017

‚Herzblatt’

Alleine schlenderte Laura über den Jahrmarkt. Es war gerade einmal eine Woche her, dass Mark sie verlassen hatte. Schon länger bemerkte sie, dass er immer verschlossener wurde. Er kam später aus dem Büro nach Hause - der Klassiker. Doch sie verdrängte alle Anzeichen. Dann schrieb er ihr eine SMS. Er habe sich in die neue Kollegin verliebt, schrieb er. Eine SMS – nach 4 Jahren.
Als sie abends nach Hause kam, war er bereits ausgezogen. Auf dem Tisch lag ein Zettel: ‚Sei mir nicht böse. Ich behalte den Schlüssel noch und hole in den nächsten Tagen meine restlichen Sachen. Mark’.
So ein Feigling. Nicht einmal den Mut, ihr in die Augen zu sehen, hatte er.
Die ganze Nacht weinte sie in sein Kopfkissen. Und gerade jetzt war ihre beste Freundin im Urlaub. Dabei hätte sie Jasmin so dringend gebraucht.
Warum war ihr das passiert? Hatte sie Fehler gemacht?
 „Wäre Jasmin jetzt hier“, dachte Laura weiter und musste schmunzeln, „dann würde sie mir jetzt ordentlich den Kopf waschen. Er geht, würde sie sagen, und du suchst den Fehler bei dir. Bist du noch ganz frisch?“
Jasmin war so herrlich unkompliziert und stets fröhlich. Sie schaffte es immer, Laura aus einem Tief wieder herauszuholen. Jetzt musste sie zuerst einmal alleine mit dieser Situation klar kommen.
Laura stellte sich an die Bande des Autoskooters und beobachtete die verliebten Pärchen. Ihr Herz blutete. Ob sie sich noch einmal würde verlieben können? Wo war er nur, der Mann, der sie von Herzen liebte und zu ihr hielt in guten wie in schlechten Zeiten? Sie hatte immer gehofft, mit Mark den Mann ihres Lebens gefunden zu haben. Nun wusste sie es besser.
 „Er war es halt nicht“, würde Jasmin sagen. „Wein dem bloß keine Träne nach, er hat es eh nicht verdient.“
Ihre Freundin hatte Mark ohnehin nicht sonderlich gemocht.
Laura schlenderte weiter. Ein Mädchen stand mit ihren Eltern mitten im Weg. Sie schauten nach oben. Laura folgte ihren Blicken. Sie sahen einem Luftballon hinterher, der in den Abendhimmel verschwand. Als Kind hatte sie Luftballons geliebt und sie erinnerte sich daran, dass sie einmal einen Zettel daran geheftet hatte mit ihrem Namen und ihrer Adresse und der Bitte, der Finder möge sich doch bei ihr melden. Doch leider fand niemand ihren Ballon.
Ein paar Meter weiter kam Laura an dem Stand mit den gasgefüllten Luftballons vorbei. Ihr fiel sofort ein knallroter Herzballon ins Auge. So kitschig es auch sein mochte: Den wollte sie haben. Zu Hause würde sie ihn dann fliegen lassen, um sich so symbolisch von Mark zu verabschieden. 
Sie setzte sich an den Küchentisch. Den Luftballon befestigte sie am Stuhl neben sich. Sie suchte nach einer Karte, die sie an den Ballon heften wollte. So wie damals. Ihr fiel eine Ansichtskarte ihrer Stadt in die Hände. Sie schrieb: ‚Gibt es irgendwo auf der Welt einen Mann, der es ernst mit mir meint? Der mich nicht wegen einer Anderen verlässt? Der liebevoll und treu ist? Mich liebt, so wie ich bin und immer zu mir steht? Wenn der Zufall es möchte, dann wirst genau  D u  diese Karte finden, zu mir kommen und mich dein ‚Herzblatt’ nennen.’
Dann ging sie auf den Balkon, gab dem Luftballon die Freiheit und rief ihm hinterher:
„Flieg los und bring mir den Mann meiner Träume“.
Dennis joggte durch den Park, so wie er es an jedem Abend machte. Zu Hause wartete sowieso niemand auf ihn und die sportliche Betätigung würde ihm gut tun. So konnte er den Tag am besten verarbeiten.
Er sah das ältere Ehepaar, das er schon des Öfteren hier getroffen hatte. Manchmal schlenderten sie Händchen haltend nebeneinander her. Man hatte den Eindruck, sie würden sich gegenseitig Halt geben. Heute saßen sie dicht nebeneinander auf der Bank und beobachteten die Schwäne auf dem Teich.
„Ob ich jemals eine Frau finden werde, die zu mir passt und zu mir steht, bis ins hohe Alter?“, fragte sich Dennis in diesem Moment.
Er wusste nicht, was es war, doch irgendetwas zog ihn zu dieser Bank. Die älteren Herrschaften freuten sich über die Abwechslung und kamen mit ihm ins Gespräch. Sie erzählten, dass sie vor ein paar Wochen ihre Diamantene Hochzeit gefeiert hätten und sich darüber freuten, dass sie einander hatten.
„Schauen sie mal, junger Mann“, sagte die ältere Dame zu Dennis und zeigte hoch zum Baum, unter dem sie saßen. „Dort oben hängt ein roter Herzluftballon. Den hat bestimmt ein Kind abgeschickt und wartet jetzt sehnsüchtig auf Antwort.“
Da Dennis sportlich war, kletterte er kurzerhand auf den Baum und rettete den Luftballon. „Oh“, sagte er, „der hat es aber nicht weit geschafft. Schauen sie nur. Eine Karte unserer Stadt.“
Dann las er vor, was darauf stand.
„Nein, wie entzückend“, entfuhr es der älteren Dame. „Das ist ja romantisch. Na, junger Mann, dann müssen sie sich jetzt aber auf die Suche nach ihrem ‚Herzblatt’ machen.“
Dennis steckte die Karte in seine Hosentasche und verabschiedete sich.
„Wie romantisch“, hatte die Frau gesagt. Und er war ein Romantiker. Sein Freund Daniel zog ihn ständig damit auf. Wie um alles in der Welt sollte er diese Frau finden. Er wusste doch nichts von ihr, außer, dass sie auch in dieser Stadt lebte. Weshalb hatte sie nicht wenigstens ihren Namen auf die Karte geschrieben. Dann hätte er eine Chance gehabt, sie zu finden. Aber so war es aussichtslos.
Am Abend kam sein Freund Daniel zu Besuch. Dennis erzählte ihm die Geschichte und zeigte die Karte.
„Du bist jetzt aber nicht ernsthaft auf der Suche nach dieser Frau, oder?“, fragte Daniel Dennis.
„Ich weiß ja, dass es aussichtslos scheint. Aber versuchen muss ich es wenigstens“, antwortete dieser.
„Und wie, bitteschön, möchtest du das anstellen?“, entgegnete Daniel.
„Ich könnte eine Anzeige aufgeben und so nach ihr suchen“, sagte dieser.
„Das meinst du jetzt nicht ernsthaft? ‚Liebes Herzblatt. Habe heute deine Karte gefunden. Bin unendlich in dich verliebt. Bitte melde dich umgehend bei mir’.
Und dann nennst du deinen Namen, deine Anschrift, deine Telefonnummer, deine E-Mail-Adresse und am besten auch noch deine Handynummer, oder wie stellst du dir das vor“, zog Daniel seinen Freund auf.
„Und du weißt doch gar nicht, ob sie die Richtige für dich ist. Hör auf damit. Du wirst schon noch eine Frau finden, die zu dir passt. Aber auf diesem Weg wohl eher nicht“, brachte Daniel seinen Freund auf den Boden der Tatsachen zurück.
„Aber wenn wir nun füreinander bestimmt sind?“, warf Dennis noch ein.
Daniel schüttelte nur mit dem Kopf.
Gott sei Dank war Jasmin inzwischen aus dem Urlaub zurückgekehrt. Sie hatte Laura zur Seite gestanden, als Mark seine letzten Sachen aus der gemeinsamen Wohnung geholt und ihr den Wohnungsschlüssel in die Hand gedrückt hatte. An dem Abend flossen noch viele Tränen, doch inzwischen waren sie getrocknet. Laura war auf gutem Wege, ihr altes Leben abzustreifen.
„Und dazu gehört in jedem Fall ein Wohnungswechsel“, hatte Jasmin gemeint. „In dieser Wohnung erinnert dich doch alles an Mark. Das ist nicht gut. Such dir etwas Neues“.
Das war keine schlechte Idee. Die Wohnung war für Laura alleine viel zu groß und würde auf Dauer auch zu teuer sein.
Jasmin war früh am Samstagmorgen mit einer Tüte Brötchen zu Laura gereist. Während des Frühstücks studierten sie die Samstagsausgabe der Zeitung, um nach einer passenden Wohnung zu suchen.
„Schau mal hier!“, entdeckte Laura eine Anzeige. „Das hört sich doch gut an: Kleine 2-Zimmer-Wohnung im Dachgeschoß mit Balkon. Und die Lage ist ideal. Von dort könnte ich sogar zu Fuß zur Arbeit gehen. Da rufe ich gleich mal an.“
Zwei Stunden später standen Laura und Jasmin in der Wohnung. Sie war toll geschnitten und hatte einen großen Süd-Balkon. Auch der Preis stimmte. Alles war einfach perfekt. Der Vermieter sagte ihnen, dass sich schon mehrere Personen die Wohnung angesehen hätten, doch wenn Laura sich sofort entscheiden könnte, dann solle sie die neue Mieterin werden.
Laura musste nicht lange überlegen. Sie sagte sofort zu.
Auf dem Weg nach unten liefen sie zwei jungen Männern in die Arme.
 „Wohin so eilig?“, hatte sie der eine gefragt.
Der andere war schüchterner, sagte nichts. Doch Laura waren sofort seine braunen sehr warmherzigen Augen aufgefallen.
„Wohnt ihr hier?“, fragte Jasmin.
„Ich nicht“, meinte der forsche junge Mann, „aber mein Freund Dennis, der wohnt hier. Und ihr beiden Hübschen, was verschlägt euch hierher?“, fragte er weiter.
Laura sagte noch immer nichts und deshalb antwortete Jasmin: „Meine Freundin Laura hat gerade die Dachgeschoßwohnung gemietet.“
„Das trifft sich ja gut“, meinte Daniel. „Hast du noch einen Sekt im Haus, Dennis? Dann können wir mit den beiden Damen auf die neue Wohnung anstoßen. Was meinst du dazu?“
Doch der hörte ihm gar nicht zu. Er hatte nur Augen für Laura.
Jasmin und Daniel nahmen die Sache in die Hand. Die vier gingen in die Wohnung und plauderten miteinander. Auch Laura und Dennis hatten inzwischen ihre Worte wieder gefunden.
„Ihr müsst euch nur einmal vorstellen“, meinte Daniel, „was meinem Freund Dennis letztens passiert ist. Ihr müsst wissen, er ist der einzige romantische Mann der ganzen Stadt. Und ausgerechnet er findet einen roten Herzluftballon mit einer Karte daran.“
Laura schaute ihn mit offenem Mund an.
„Das kann nicht sein“, sagte sie in die Runde hinein.
„Doch, wirklich. Du kannst es glauben“, meinte Daniel.
Dennis stand auf, holte die Ansichtskarte und begann zu lesen:
 „Gibt es irgendwo auf der Welt einen Mann, der es ernst mit mir meint? Der mich nicht wegen einer Anderen verlässt? Der liebevoll und treu ist? Mich liebt, so wie ich bin und immer zu mir steht? Wenn der Zufall es möchte …“
Weiter kam er nicht, denn an dieser Stelle sprach Laura weiter: „… dann wirst genau  D u  diese Karte finden und zu mir kommen und mich dein ‚Herzblatt’ nennen“.
Nun saßen die anderen mit offenem Mund am Tisch.
Keiner konnte glauben, was gerade geschehen war.
Das Leben nennt es ‚Schicksal’.

© Martina Pfannenschmidt, 2014