Freitag, 10. November 2017

Großtante Gertrud (2)

„Kannst wieder heraus kommen“, flüsterte Pia. Nachdem sie die Stufe hatte knarren hören, fügte sie an: „Die Luft ist wieder rein!“
Tante Gertrud fand die Situation sehr amüsant. Nie hätte sie es für möglich gehalten, dass sich für sie in der materiellen Welt noch einmal solche Szenen abspielen würden.
„Du wolltest mir noch erzählen, was knickern ist“, erinnerte Pia die Tante.
„Ja, das wollte ich. Du kennst doch sicher bunte Glaskugeln und nennst sie Murmeln, nicht wahr?“
Pia nickte.
„Wir sagten nicht Murmeln, sondern nannten die Kugeln Knicker. Und das Spiel hieß: Knickern.“
„Ich hab noch nie mit Murmeln gespielt. Was soll das überhaupt für ein Spiel sein?“, fragte Pia und es klang ganz schön überheblich.
„Wenn du dabei gewesen wärst, würdest du anders darüber denken“, erwiderte die Tante daraufhin. „Es war ein schönes Spiel. Zuerst machte jemand mit dem Hacken seiner Schuhe ein faustgroßes Loch in einen möglichst weichen Boden. Später bekamen wir deshalb Ärger mit der Mutter, weil noch Erde am Schuh klebte oder auch, weil wir das gute Leder lädiert hatten. Die anderen Kinder stampften anschließend mit ihren Schuhen die Erde um das entstandene Loch wieder fest. Vom Loch aus machten wir ein paar Schritte und zogen dort – wieder mit den Schuhen – eine Linie. Hinter der standen die Spieler. Gewonnen hatte derjenige, der zuerst all seine Knicker in dem Loch versenkt hatte. Vorher hatten wir übrigens einen Preis für den Sieger ausgemacht. Manchmal gewann man dabei die beste Murmel eines anderen Spielers und das gab oftmals sogar Tränen.“
„Echt?“ Pia konnte es nicht glauben. Eine Murmel mehr oder weniger zu besitzen, war für sie kein Drama.
„Das musst du verstehen“, versuchte Tante Gertrud zu erklären, „wir waren stolz auf unseren Besitz und wir wussten genau, dass wir so schnell keine neue Murmel bekamen. Die einzige Möglichkeit, sie zurück zu erobern, bot eine Revanche. Und dabei musste man halt das Glück haben, zu gewinnen. Der Druck war oft ganz schön groß, denn die Knicker waren für uns wahre Schätze.“
„Heute ist das irgendwie anders“, meinte Pia lapidar.
„Ja, ich weiß! – Übrigens müssten noch ein paar meiner schönsten Knicker in dem Koffer zu finden sein. Wenn du mal schauen magst.“
„Vielleicht später.“
Wie gut, dass Tante Gertrud inzwischen einen anderen Blick auf die Dinge hatte, sonst wäre sie vielleicht enttäuscht gewesen. So nahm sie es schmunzelnd hin.
„Was ist das denn da eigentlich für ein komisches Ding?“, wollte Pia wissen.
„Das komische Ding ist ein Plattenspieler.“
„Und was macht man damit?“
„Schau, in dem Schrank dort drüben liegen noch Schallplatten. Die legt man auf den Plattenspieler, setzt vorsichtig den Ton-Arm darauf und schon erklingen die ersten Töne.“
Pia nahm eine Schallplatte aus dem Schrank. ‚Schlager des Jahres 1950’ stand darauf. Von den Liedern, die auf dem Cover standen, hatte sie noch nie im Leben gehört: ‚Im Hafen von Adano’ und ‚Wenn das Wasser im Rhein goldner Wein wär’.
„Vielleicht funktioniert der Plattenspieler ja noch“. Tante Gertrud klang ein wenig euphorisch. „Wollen wir es einmal ausprobieren?“
Nee, lieber nicht, dachte Pia. Ich mag keine Schlager und die hier schon gar nicht.
Das Kind hatte ganz vergessen, dass Tante Gertrud ihre Gedanken wahrnehmen konnte. Hoffentlich war sie jetzt nicht beleidigt. Aber auch das registrierte die Tante mit einem Lächeln.
„Nein, mein Kind, ich bin nicht beleidigt. Alles verändert sich und das ist gut so. Ich werde jetzt auch wieder gehen. Wer weiß, vielleicht treffen wir uns noch einmal wieder. Mach es gut, Pia.“
Bevor das Mädchen widersprechen konnte, war die Gestalt fort. Pia war selbst überrascht, dass sie etwas traurig darüber war. Sie hätte die Tante noch so viele Dinge fragen können. Sie hatte es vermasselt. Mit hängendem Kopf ging sie die Treppe hinunter.
Ob sie Mama und Papa von ihrer Begegnung mit Tante Gertrud erzählen sollte, oder lieber nicht? Irgendwie hatte sie plötzlich das Gefühl, etwas erlebt zu haben, was ihr niemand glauben würde. Auch Mama und Papa nicht. Ihr kamen Zweifel, ob sie überhaupt jemals irgendjemandem diese brisante Geschichte mit Tante Gertrud erzählen könnte. Würde sie für immer und alle Zeiten ein Geheimnis bei sich tragen müssen, weil die Geschichte dahinter einfach zu unglaubwürdig war? Ob sie das aushalten konnte?
„Mensch Pia, warum schaust du nur so traurig?“, wurde sie von Papa angesprochen. „Kann ich etwas tun, um dich aufzuheitern?“
Als er keine Antwort erhielt, meinte er: „Wir machen so schnell wir können, Pia. Aber du siehst selbst. Es ist noch viel zu tun. Ein paar Tage werden wir noch hier bleiben müssen. Geh doch mal raus auf die Straße, vielleicht siehst du ja andere – Papa machte eine Pause, fast hätte er ‚Kinder’ gesagt, doch gerade noch rechtzeitig besann er sich und sagte stattdessen – Jugendliche, mit denen du die Zeit verbringen könntest. Du bist doch nicht scheu und auf den Mund gefallen. Wer weiß, vielleicht findest du hier sogar eine Freundin.“
„Und was soll ich mit der anfangen, wenn wir nach ein paar Tagen wieder fahren?“
Da hatte Pia auch wieder recht. Gerne hätte er seiner Tochter einen attraktiven Urlaub gegönnt, aber in diesem Sommer war es nun mal so. Doch dann fiel ihm etwas ein, das sie aufmuntern könnte: „Weißt du was, ich verspreche dir, dass wir in den Herbstferien in den Süden fliegen. Das können wir uns nämlich leisten, wenn der Käufer das Geld für das Haus überwiesen hat. Wie findest du das? Das sind doch tolle Aussichten – oder nicht.“
Pia nickte und trollte sich Richtung Garten. Papa sah ihr noch eine Weile hinterher. Das Verhalten seiner Tochter ließ darauf schließen, dass sie mitten in der Pubertät sein musste – und das mit gerade mal 12 Jahren!
In der Nacht wurde Mama wach, weil Pia im Schlaf laut redete.
„Pia, was ist los?“, fragte Mama und setzte sich auf die Bettkante.
Schlaftrunken murmelte das Kind: “Tante Gertrud, sie ist hier. Auf dem Dachboden. Ich habe sie gesehen.“
Mama strich Pia beruhigend über den Kopf: „Du hast geträumt, meine kleine Pia. Tante Gertrud kann nicht auf dem Dachboden sein. Sie lebt nicht mehr.“
Jetzt wusste Pia ganz sicher, dass ihr niemals jemand ihre unglaubliche Geschichte abnehmen würde.


© Martina Pfannenschmidt, 2017