Donnerstag, 9. November 2017

Gedanken

Oma saß alleine auf der Terrasse und betrachtete ehrfürchtig die Abendröte, die sich am Horizont zeigte. Sie dachte zurück an die Zeit, als ihr Mann noch bei ihr war und an die herrlichen Sonnenuntergänge, die sie gemeinsam genossen.
Am Schönsten waren die, die sie am Meer erleben durften. Beeindruckend war es, wenn der Feuerplanet glutrot im Meer versank und sich die Farben, die sich dabei am Himmel zeigten, im Wasser spiegelten. Wie viele Abenddämmerungen sie wohl noch erleben dürfte, fragte sie sich an diesem lauen Sommerabend.
Als sie noch jung war, hatte sie über diese Dinge gar nicht nachgedacht. Der Tod war noch so weit entfernt und damit auch der Gedanke daran. Doch heute war ihr Haar grau und im Gesicht zeigten sich viele Falten. Jede einzelne von ihnen hätte eine Geschichte zu erzählen gewusst.
Manchmal war sie schon ein wenig traurig, weil ihr Walter nicht mehr bei ihr war. Doch sie wollte nicht undankbar sein. Sie hatte ein schönes Leben – auch jetzt noch im Alter und ihnen beiden waren viele wundervolle gemeinsame Jahre vergönnt gewesen.
Doch manchmal kamen melancholische Gedanken über sie, wenn sie an ihren Ehemann dachte. Wo er jetzt wohl war?
Vielleicht war es dort sehr schön und er dachte gar nicht mehr an sie. Eventuell konnte man sich aber auch nicht mehr an das Leben auf der Erde zurück erinnern. Alles war möglich.
Oma konnte sich aber keinesfalls vorstellen, dass alles einfach so vorüber war. Da gab es ja noch die Seele. Doch wohin sie ging, wenn der Körper nicht mehr lebensfähig war, blieb ein großes Mysterium.
Ob ihr Mann auf der anderen Seite auf sie wartete? So viele Fragen, die ihr niemand beantworten konnte.
Sie hatten sich sehr geliebt und der Gedanke daran, wieder zusammen zu sein, zauberte ein Lächeln auf ihr Gesicht.
Bestimmt hätte Walter auch gerne sein Enkelkind noch weiter aufwachsen sehen, so wie es ihr vergönnt war.
Oma wusste, auch sie würde irgendwann ihre Familie zurücklassen müssen. Das würde ihr sicherlich schwer fallen.
Seinen Körper abzulegen, der alt und gebrechlich war, um irgendwo ohne diesen weiterleben zu können, war zwar unvorstellbar doch bestimmt befreiend.
Sie glaubte ganz fest an ein Weiterleben nach dem Tod. Nicht, weil die Denkweise tröstlich war, sondern weil das ganze Leben für sie sonst einfach keinen Sinn machte.
Würde der Mensch nur ein einziges Mal leben, hätte der eine der gesund und reich war, eben einfach nur ‚Glück’ gehabt und der andere, der krank, vielleicht behindert oder arm war, eben einfach nur ‚Pech’. So simpel konnte es nicht sein. Das hatte das Leben sie gelehrt.
Oma konnte nicht glauben, dass es einfach Zufall oder Schicksal war, was wir hier erlebten. Sie glaubte vielmehr, alles habe einen Sinn.
Die Seele, so konnte sie sich vorstellen, hatte sich diesen Körper zugelegt, um hier auf der Erde Aufgaben zu erfüllen und Erfahrungen zu sammeln. Diese Aufgaben zu finden und den Weg zu gehen, musste der Sinn des Lebens sein. Vielleicht kam nach dem Tod die Auswertung des Ganzen.
Sie konnte sich vorstellen, dass das Leben noch einmal an einem vorüber zog, quasi im Schnelldurchlauf, um zu erkennen, was man falsch oder auch richtig gemacht hatte in seinem Leben.
Vielleicht empfand man dabei die Gefühle der Menschen, die man mit Worten oder auch Taten verletzt hatte.
Möglicherweise musste man in einem nächsten Leben diese Fehler noch einmal durchleben, und erhielt so die Möglichkeit, es besser zu machen.
 Bestimmt hatte auch sie in ihrem jetzigen Leben wieder Fehler gemacht, die sie in einem nächsten Leben beheben könnte.
Wenn es so war, gäbe es ein immerwährendes Leben und wieder Sterben, bis alle Aufgaben erfüllt waren und die Seele einen anderen, besseren Ort zum Leben suchen durfte. Dies alles, um letztendlich den Zustand zu erreichen, den die Menschen als Himmel bezeichneten.
Oma sah zum selbigen hinauf: Langsam zeigten sich die ersten Sterne. Unendlich war das Universum, einfach unendlich. Und der Mensch war ein winziger Teil dieses großen Ganzen.
Im Vergleich zur Größe des Universums war er vielleicht kleiner als ein Sandkorn am Meer und doch empfand sich der Mensch als einzigartig und rechnete sich aus, das klügste Wesen des gesamten Universums zu sein.
Ob ihr Walter jetzt auf dem Stern dort oben lebte, der ihr gerade zugeblinzelt hatte? Den Gedanken nahm sie mit hinein in ihre gute Stube, als sie zu frösteln begann.


© Martina Pfannenschmidt, 2015