Freitag, 10. November 2017

Filmriss

Elias wurde wach, doch es wollte ihm nicht gelingen, seine Augen zu öffnen. Zu stark waren die Kopfschmerzen, die er verspürte. Es war ihm, als sei eine ganze Kompanie kleiner Männchen in seinem Kopf, die unentwegt gegen seine Schädeldecke hämmerten. Er blinzelte mit einem Auge, um zu schauen, ob Alina, seine zukünftige Frau, neben ihm lag. Schnell schloss er das Auge wieder. Sie war da und schlief. Gott sei Dank!
In ein paar Tagen wollten sie heiraten, deshalb hatten sie am gestrigen Abend getrennt voneinander Junggesellenabschied gefeiert. Eine feucht-fröhliche Angelegenheit war das. Elias musste als Supermann verkleidet durch die Straßen und von einer Kneipe in die andere ziehen. Er wusste noch, dass er gemeinsam mit seinen Freunden in einer Diskothek gelandet war. Dort hatte er mit der feurigen Francesca getanzt. Daran konnte er sich noch gut erinnern. Doch wie war er nach Hause gekommen? Er besann sich auch, dass er mit ihr die Diskothek verlassen hatte, und zwar ohne seine Freunde. Doch was dann noch passiert war, er wusste es einfach nicht. Filmriss, wie man so schön sagte. Eine sehr unangenehme Sache, denn er meinte sich an eine heikle Situation zu erinnern. Er glaubte, diese Francesca geküsst zu haben, aber genau wusste er es einfach nicht mehr. Er würde doch hoffentlich seine Frau nicht kurz vor der Ehe betrogen haben? Er liebte sie doch. ‚Lieber Gott’, stieß er ein Stoßgebet Richtung Himmel, ‚lass bitte nicht passiert sein, woran ich jetzt gerade denke!’
Seine Freundin erwachte und hielt sich im gleichen Moment den Kopf. Er schmerzte genauso, wie der von Elias. „O, mein Kopf“, war dann auch das Erste, was sie sagte, „ich brauche jetzt erst einmal einen frischen Kaffee. Guten morgen, mein Schatz! Willst du auch einen?“ „Ja, sehr gerne“, antwortete er müde. Irgendwie hatte er ein komisches Gefühl in der Magengegend. Also entweder musste er sich gleich übergeben oder es war das pure schlechte Gewissen. Wie sich eine kurze Zeit später herausstellen sollte, war es wohl von beidem etwas.
Den ganzen Tag über versuchte er, sich an das Ende des gestrigen Abends zu erinnern, doch die Zeit war wie ausgelöscht. ‚Das ist bestimmt eine Schutzfunktion meines Unterbewusstseins’, redete er sich ein. ‚Es wird besser sein, wenn ich mich gar nicht erinnere’. Doch diese Ungewissheit war ganz furchtbar. Seine Freunde meldeten sich so nach und nach und erkundigten sich nach seinem Befinden. Alle fragten ihn, wo er denn so plötzlich mit der schönen Frau abgeblieben sei. Ja, wenn er dass nur wüsste.
Sie feierten ein paar Tage später eine traumhafte Hochzeit. Elias hatte seine Tränen kaum zurückhalten können, als er seine wunderschöne Braut gesehen hatte. Sie war nicht nur hübsch, sondern auch spontan und unkompliziert. Das hatte er in den letzten beiden Jahren, in denen sie zusammen lebten, immer wieder festgestellt. Sie war einfach das Beste, was ihm passieren konnte.
Ihre Flitterwochen verbrachten sie in der Karibik. Sie waren beide fasziniert von dieser Landschaft, dem glasklaren Wasser und der Mentalität der Einheimischen. Es war wirklich eine ganz andere Welt. Die meiste Zeit dieser zwei Wochen verbrachten sie am Strand, lagen faul in der Sonne, schnorchelten im Wasser oder lasen ein Buch. Der einzige Wehrmutstropfen war, dass Alina das scharfe Essen nicht so gut vertragen konnte und sich für ein paar Tage in der Nähe einer Toilette aufhalten musste, doch das nahm sie mit Humor.
Als ihr jedoch einige Tage später zu Hause immer noch allmorgendlich schlecht wurde, hatte sie einen Verdacht, den ihr Gynäkologe bald bestätigte. Sie war schwanger. Zwar war ein Baby im Moment noch nicht geplant, doch nun war es so und beide freuten sich, bald ihr Kind in den Armen halten zu können.
Als sie ein paar Monate später gemütlich vor dem Fernseher saßen, klingelte es an der Haustür.
„Ich gehe schon, Schatz“, sagte Alina und erhob sich schwerfällig. Vor ihr stand eine dunkelhaarige ebenfalls schwangere junge Frau.
„Ja bitte?“, fragte Alina die Fremde.
„Kann ich bitte Elias sprechen?“, bat sie.
„Elias“, rief Alina von der Haustür Richtung Wohnzimmer, „kommst du mal.“
Er schwang sich aus dem Sofa und beim Anblick der schwangeren jungen Frau, die da so unvermutet vor seiner Tür stand, wurde er ganz blass.
‚Nein’, ‚bitte nicht!’, dachte er nur. Dann brachte er doch ein „Hallo“ hervor.
„Ihr kennt euch“, hakte Alina sogleich nach und es schwang eine leichte Eifersucht in der Stimme mit.
„Nur flüchtig“, antwortete die Frau mit dem hübschen Namen Francesca.
„Ich habe heute mein Auto verkauft“, erzählte sie dann, „und als ich das Handschuhfach ausgeräumt habe, fand ich etwas, das dir gehört. Hast du es denn noch gar nicht vermisst?“
Es war sein Handy, das sie ihm entgegen hielt. Ja, Elias hatte es sehr wohl vermisst und gesucht, tagelang sogar. An den unmöglichsten Stellen hatte er es vermutet, doch nicht dort, wo sie es gefunden hatte.
„Es stand auf lautlos“, erklärte Francesca, „sonst hätte ich es vielleicht schon eher entdeckt.“
„Und wie bitte“, versuchte Alina die Situation zu verstehen, „ist es dorthin gelangt?“
„Schatz, bitte“, stotterte Elias, „bleib ganz ruhig. Ich kann dir das erklären.“
 „Darum bitte ich aber auch“, erwiderte Alina scharf, denn so begannen alle Sätze, die meistens mit einem Drama endeten.
„Aber da gibt es gar nicht viel zu erklären“, entgegnete Francesca munter, „ihr Mann hat bei seinem Junggesellenabschied viel zu tief ins Glas geschaut und da habe ich ihn nach Hause gebracht, bevor er ganz und gar unter die Räder kam und dabei muss er unbemerkt von mir sein Handy in mein Handschuhfach gelegt haben.“
Es war Elias in diesem Moment, als sei ein ganzer Felsbrocken von seinem Herzen gefallen.
Ein paar Wochen später wurde Elias Vater und Francescas Sohn, der in der Klinik im Bettchen neben seiner süßen Tochter lag, war dessen Vater wie aus dem Gesicht geschnitten. Gott sei Dank!


© Martina Pfannenschmidt, 2014