Donnerstag, 9. November 2017

Enttäuschungen

„Maren hat heute ganz doll geweint“, erzählte Kathrin, „und sie hat gesagt, ihr Vater sei ein Lügner!“
Oma war ganz bestürzt über die Aussage ihrer Enkelin.
„Was macht Maren denn so traurig und wie kommt sie zu diesem harten Urteil?“
„Na, weil er sie angelogen hat!“
„Magst du mir ein bisschen mehr davon erzählen?“
„Das ist so: Die Mama von Maren liegt im Krankenhaus und wurde operiert. Ihr Vater hat gesagt, es sei alles nicht so schlimm und ihre Mama werde bald wieder gesund.“
„Aber das war noch nicht alles, oder?“
„Nein, pass auf. Der Pascal aus meiner Klasse hat eine Unterhaltung zwischen seinen Eltern belauscht und Maren heute davon erzählt. In dem Gespräch hat die Mama von Pascal ihrem Mann von einer Frau erzählt, die immer starke Bauchschmerzen hatte. Nun wurde im Krankenhaus ein Tumor in ihrem Bauch entdeckt und deshalb musste sie sofort operiert werden.“
Oma war Kathrins Worten aufmerksam gefolgt. „Verstehe. Aber ob wirklich die Rede von Marens Mutter war, weiß Pascal nicht, oder? Maren vermutet es nur, richtig?“
„Ja, genau. Maren glaubt das, weil ihre Mutter auch immer heftige Bauchschmerzen hatte. Und sie denkt, ihr Vater belügt sie und ihre Mama ist doch schwer krank und deshalb ist sie so enttäuscht von ihm.“
„Ach, dass ist eine ganz verzwickte Situation. Also, wenn Marens Vater ihr nicht die Wahrheit gesagt haben sollte, so darf sie ihn nicht gleich als ‚Lügner’ bezeichnen. Wenn es wirklich so ist, hat er ihr eine schwere Krankheit nur verschwiegen, um Maren nicht noch trauriger zu machen. Wir sollten mit unseren Urteilen stets vorsichtig sein. Das ist nämlich sehr anmaßend, das Handeln eines anderen als ‚falsch’ zu bezeichnen, wenn man die Beweggründe dafür nicht kennt.“
Kathrin schaute skeptisch, als sie antwortete: „Ich weiß nicht, ob es richtig war, wenn er gelogen hat oder falsch.“
„Siehst du, ich auch nicht. Genau das meine ich. Wir dürfen es uns nicht anmaßen, das Verhalten eines anderen zu beurteilen. Er wird seine Gründe haben.“
„Omi?“
„Ja?“
„Warst du auch schon einmal enttäuscht?“
„Ob ich enttäuscht war? O ja, mehr als einmal.“
„Weshalb warst du enttäuscht?“
„Teilweise wegen ganz banaler Dinge. Ich war von einem Buch enttäuscht oder von einem Film, weil ich mir mehr davon versprochen hatte. Oder ich war von einer Creme enttäuscht, weil sie doch nicht so gegen meine Falten wirkte, wie es die Werbung versprach“, lachte Oma.
„Nein, Oma, dass meine ich nicht. Ich meine, ob du von anderen Menschen enttäuscht wurdest.“
„Ja, auch das. Weißt du, Kathrin, Enttäuschungen gehören zum Leben dazu. Sie sind unvermeidbar. Eine Enttäuschung wird auch immer von Gefühlen begleitet. Wenn wir maßlos enttäuscht sind, ärgern wir uns vielleicht über einen anderen Menschen und sind manchmal richtig wütend. Oder es zeigen sich noch stärkere Gefühle. Wir können durch Enttäuschungen frustriert sein, deprimiert oder gar verbittert.“
Oma legte eine kleine Pause ein.
„Lass uns überlegen, woher Enttäuschungen kommen“, schlug sie vor.
Kathrin schaute erwartungsvoll.
„Es ist eigentlich ganz einfach. Andere Menschen haben sich anders verhalten, als wir es erwartet oder erhofft haben. Dass heißt, wir sind enttäuscht durch eine Erwartungshaltung die andere Menschen nicht erfüllen.“
„Du Omi, die Sache mit der Enttäuschung ist aber ganz schön schwierig zu verstehen.“
Liebevoll strich Oma über Kathrins Arm.
„Ja, ich weiß. Auch wir Erwachsenen begreifen oft nicht, dass es nicht die anderen sind, die uns enttäuschen. Wenn wir enttäuscht wurden heißt das eigentlich, wir haben uns vorher ge-täuscht und deshalb mussten wir wieder ent-täuscht werden.“
„Omi, manchmal bin ich sogar von mir selbst enttäuscht“, verriet Kathrin.
„Soooo?! Wann denn?“
„Na im letzten Sommer zum Beispiel. Da stand ich auf dem 3-Meter-Turm aber ich habe mich einfach nicht getraut, herunter zu springen. Da war ich von mir sehr enttäuscht.“
„Aber auch hier gilt, dass Enttäuschungen hausgemacht sind. Bevor wir enttäuscht werden können, ob nun von anderen oder uns selbst, müssen wir eine bestimmte Erwartung gehabt haben. Wenn die nicht erfüllt wurde, ist sie da, die Enttäuschung.“
„Das heißt, ich hatte an mich die Erwartung, dass ich springe und als ich mich doch nicht getraut habe, war ich von mir enttäuscht.“
„Genau! Enttäuschungen entstehen, wenn wir uns etwas erhoffen, das nicht eintritt. Zum Beispiel dein Sprung. Und wenn wir ehrlich sind, ist so eine Täuschung gar nichts Negatives, sondern eher etwas Positives. Wir erkennen die Wahrheit und die war in deinem Fall: Du bist eine Bangebüchse¹.“
„He, Omi, das ist gemein. Ich bin gar keine Bangebüchse!“, ereiferte sich Kathrin.
„Nein, bist du nicht. Weiß ich doch! Aber in dem Moment warst du es so ein ganz klein wenig. Weißt du, jede Enttäuschung hilft uns im Leben weiter. Wir können aus diesen Erfahrungen lernen. Ganz vermeiden lassen sich Enttäuschungen wohl nicht. Wir sollten einfach weniger von anderen Menschen und uns selbst erwarten. Das wäre schon mal ein guter Anfang.“
„Du Omi, ich glaube, ich fahre jetzt zu Maren und erzähle ihr von unserem Gespräch. Sie soll ihren Papa noch mal genau fragen, woran ihre Mutter nun wirklich erkrankt ist.“
„Das ist eine gute Idee! Vielleicht hat ihr Vater ja wirklich die Wahrheit gesagt. Das wünsche ich ihr.“
„Ich auch, Omi, und ich wünsche mir noch etwas.“
„Was denn?“
„Na, dass ich mich im nächsten Sommer traue, vom 3-Meter-Brett zu springen.“

© Martina Pfannenschmidt, 2015

Erklärung des Wortes
Bangebüchse¹ =  ängstliche Person