„Maren hat
heute ganz doll geweint“, erzählte Kathrin, „und sie hat gesagt, ihr Vater sei
ein Lügner!“
Oma war ganz
bestürzt über die Aussage ihrer Enkelin.
„Was macht
Maren denn so traurig und wie kommt sie zu diesem harten Urteil?“
„Na, weil er
sie angelogen hat!“
„Magst du mir
ein bisschen mehr davon erzählen?“
„Das ist so:
Die Mama von Maren liegt im Krankenhaus und wurde operiert. Ihr Vater hat
gesagt, es sei alles nicht so schlimm und ihre Mama werde bald wieder gesund.“
„Aber das war
noch nicht alles, oder?“
„Nein, pass
auf. Der Pascal aus meiner Klasse hat eine Unterhaltung zwischen seinen Eltern
belauscht und Maren heute davon erzählt. In dem Gespräch hat die Mama von
Pascal ihrem Mann von einer Frau erzählt, die immer starke Bauchschmerzen hatte.
Nun wurde im Krankenhaus ein Tumor in ihrem Bauch entdeckt und deshalb musste
sie sofort operiert werden.“
Oma war
Kathrins Worten aufmerksam gefolgt. „Verstehe. Aber ob wirklich die Rede von
Marens Mutter war, weiß Pascal nicht, oder? Maren vermutet es nur, richtig?“
„Ja, genau.
Maren glaubt das, weil ihre Mutter auch immer heftige Bauchschmerzen hatte. Und
sie denkt, ihr Vater belügt sie und ihre Mama ist doch schwer krank und deshalb
ist sie so enttäuscht von ihm.“
„Ach, dass
ist eine ganz verzwickte Situation. Also, wenn Marens Vater ihr nicht die
Wahrheit gesagt haben sollte, so darf sie ihn nicht gleich als ‚Lügner’
bezeichnen. Wenn es wirklich so ist, hat er ihr eine schwere Krankheit nur
verschwiegen, um Maren nicht noch trauriger zu machen. Wir sollten mit unseren
Urteilen stets vorsichtig sein. Das ist nämlich sehr anmaßend, das Handeln
eines anderen als ‚falsch’ zu bezeichnen, wenn man die Beweggründe dafür nicht
kennt.“
Kathrin
schaute skeptisch, als sie antwortete: „Ich weiß nicht, ob es richtig war, wenn
er gelogen hat oder falsch.“
„Siehst du,
ich auch nicht. Genau das meine ich. Wir dürfen es uns nicht anmaßen, das
Verhalten eines anderen zu beurteilen. Er wird seine Gründe haben.“
„Omi?“
„Ja?“
„Warst du
auch schon einmal enttäuscht?“
„Ob ich
enttäuscht war? O ja, mehr als einmal.“
„Weshalb
warst du enttäuscht?“
„Teilweise
wegen ganz banaler Dinge. Ich war von einem Buch enttäuscht oder von einem
Film, weil ich mir mehr davon versprochen hatte. Oder ich war von einer Creme
enttäuscht, weil sie doch nicht so gegen meine Falten wirkte, wie es die
Werbung versprach“, lachte Oma.
„Nein, Oma,
dass meine ich nicht. Ich meine, ob du von anderen Menschen enttäuscht
wurdest.“
„Ja, auch
das. Weißt du, Kathrin, Enttäuschungen gehören zum Leben dazu. Sie sind unvermeidbar.
Eine Enttäuschung wird auch immer von Gefühlen begleitet. Wenn wir maßlos
enttäuscht sind, ärgern wir uns vielleicht über einen anderen Menschen und sind
manchmal richtig wütend. Oder es zeigen sich noch stärkere Gefühle. Wir können
durch Enttäuschungen frustriert sein, deprimiert oder gar verbittert.“
Oma legte
eine kleine Pause ein.
„Lass uns
überlegen, woher Enttäuschungen kommen“, schlug sie vor.
Kathrin
schaute erwartungsvoll.
„Es ist
eigentlich ganz einfach. Andere Menschen haben sich anders verhalten, als wir
es erwartet oder erhofft haben. Dass heißt, wir sind enttäuscht durch eine
Erwartungshaltung die andere Menschen nicht erfüllen.“
„Du Omi, die
Sache mit der Enttäuschung ist aber ganz schön schwierig zu verstehen.“
Liebevoll
strich Oma über Kathrins Arm.
„Ja, ich
weiß. Auch wir Erwachsenen begreifen oft nicht, dass es nicht die anderen sind,
die uns enttäuschen. Wenn wir enttäuscht wurden heißt das eigentlich, wir haben
uns vorher ge-täuscht und deshalb
mussten wir wieder ent-täuscht werden.“
„Omi,
manchmal bin ich sogar von mir selbst enttäuscht“, verriet Kathrin.
„Soooo?! Wann
denn?“
„Na im
letzten Sommer zum Beispiel. Da stand ich auf dem 3-Meter-Turm aber ich habe
mich einfach nicht getraut, herunter zu springen. Da war ich von mir sehr
enttäuscht.“
„Aber auch
hier gilt, dass Enttäuschungen hausgemacht sind. Bevor wir enttäuscht werden
können, ob nun von anderen oder uns selbst, müssen wir eine bestimmte Erwartung
gehabt haben. Wenn die nicht erfüllt wurde, ist sie da, die Enttäuschung.“
„Das heißt,
ich hatte an mich die Erwartung, dass ich springe und als ich mich doch nicht
getraut habe, war ich von mir enttäuscht.“
„Genau!
Enttäuschungen entstehen, wenn wir uns etwas erhoffen, das nicht eintritt. Zum
Beispiel dein Sprung. Und wenn wir ehrlich sind, ist so eine Täuschung gar
nichts Negatives, sondern eher etwas Positives. Wir erkennen die Wahrheit und die
war in deinem Fall: Du bist eine Bangebüchse¹.“
„He, Omi, das
ist gemein. Ich bin gar keine Bangebüchse!“, ereiferte sich Kathrin.
„Nein, bist
du nicht. Weiß ich doch! Aber in dem Moment warst du es so ein ganz klein
wenig. Weißt du, jede Enttäuschung hilft uns im Leben weiter. Wir können aus
diesen Erfahrungen lernen. Ganz vermeiden lassen sich Enttäuschungen wohl
nicht. Wir sollten einfach weniger von anderen Menschen und uns selbst
erwarten. Das wäre schon mal ein guter Anfang.“
„Du Omi, ich
glaube, ich fahre jetzt zu Maren und erzähle ihr von unserem Gespräch. Sie soll
ihren Papa noch mal genau fragen, woran ihre Mutter nun wirklich erkrankt ist.“
„Das ist eine
gute Idee! Vielleicht hat ihr Vater ja wirklich die Wahrheit gesagt. Das wünsche
ich ihr.“
„Ich auch,
Omi, und ich wünsche mir noch etwas.“
„Was denn?“
„Na, dass ich
mich im nächsten Sommer traue, vom 3-Meter-Brett zu springen.“
© Martina Pfannenschmidt, 2015
Erklärung
des Wortes
Bangebüchse¹
= ängstliche Person