Liana
musste sich ablenken und nachdenken. Das konnte sie am besten beim Laufen.
Diesmal schlug sie nicht den Weg Richtung Park ein, da waren ihr viel zu viele
Menschen. Sie würde in einer anderen Gegend joggen, die nicht so überlaufen war
und wo es auch Grünflächen gab.
Nach
ein paar Kilometern musste sie sich eingestehen, dass ihr das Joggen diesmal
nicht half, ihren Gedanken eine andere Richtung zu geben. Sie stoppte, setzte
sich mitten auf eine Wiese, pflückte ein Gänseblümchen
und zog an den weißen Blütenblättchen.
„Er
liebt mich, er liebt mich nicht“, murmelte sie. Ein paar Tränen sammelten sich in
ihren Augen, kullerten die Wangen herunter und tropften direkt auf das Schneckenhaus von Berta.
Nanu,
dachte diese. Gerade schien noch die Sonne und jetzt klopft ein Regentropfen
auf mein Häuschen? Vorsichtig streckte sie zunächst einen, dann den anderen
Fühler heraus. Ne, kein Regen – blauer Himmel und Sonnenschein. – Tropf! – Da,
schon wieder? Woher kam dieses Phänomen?
Berta
sah nach oben und direkt in Lianas trauriges Gesicht. Wieder löste sich eine
Träne aus ihren Augen. Berta ging sofort in Deckung. Sie war zwar nicht feige, doch so ein Tropfen auf dem Kopf
konnte einem schon Kopfschmerzen bereiten. Aus ihrem Häuschen heraus
beobachtete sie das seltsame Treiben der jungen Frau. Was murmelte sie da eigentlich?
„He
du“, rief Berta, „deine Tränen tropfen direkt auf mein Häuschen.“
Liana
entdeckte die Schnecke und wischte flugs mit einer Handbewegung ihre Tränen aus
dem Gesicht. „Entschuldigung!“, erwiderte sie und wunderte sich gleichzeitig
darüber, dass sie mit einer Schnecke sprach.
„Warum
weinst du?“, wollte Berta wissen.
„Ich
weine ja gar nicht. Das liegt an den Pollen.“
„Ah“,
schmunzelte Berta, „verstehe. Pollenallergie!“
Liana
nickte.
Wer
die Schnecke kannte, wusste, dass sie nicht so schnell aufgab.
„Hat
die Pollenallergie auch einen Namen?“
Sofort
sammelten sich wieder Tränen in Lianas Augen. Sie wischte sie fort und
antwortete: „Jochen!“
„Und
was hat dieser Jochen getan, dass du hier auf dieser Wiese sitzt, ein
Gänseblümchen verstümmelst und weinst?“
„Er
hat Schluss gemacht“, schluchzte Liana und fügte nach einiger Zeit hinzu: „Ich
werde aber um ihn kämpfen.“
Darauf
erwiderte Berta zunächst nichts, doch dann sprach sie:
„Weißt
du, ich beobachte die Menschen schon seit einigen Jahren. Die meisten wünschen
sich Frieden für sich und die Welt. Auf der anderen Seite hören sie aber nicht
auf, zu kämpfen. Um eine vergangene Liebe zum Beispiel, so wie du jetzt, oder
um einen besser bezahlten Arbeitsplatz. Ihr kämpft sogar um Aufmerksamkeit. Wie
soll denn da Frieden entstehen? Ich weiß, ihr kämpft nicht mit Waffen aber ihr
kämpft in euren Gedanken. Das solltet ihr Menschen bedenken. - Du bist übrigens
nicht das erste Menschenkind, das hier auf dieser Wiese sitzt und seine Tränen
vergießt. Manchmal muss man halt erkennen,
wenn etwas zu Ende ist.“
„Aber
ich liebe ihn doch“, widersprach Liana.
„Vielleicht
solltest du dich mal fragen, ob es wirklich noch Liebe ist, was du für ihn
empfindest. Vielleicht ist es inzwischen nur noch Freundschaft oder du hast
Angst vor dem Alleinsein“.
„Früher,
als wir frisch verliebt waren“, überlegte Liana laut, „ist er nicht an jedem
Sonntag zum Fußballplatz gegangen. Da haben wir etwas gemeinsam unternommen.
Heute geht jeder seinen Weg.“
„Siehst
du. Das meine ich. Vielleicht seid ihr nur noch aus Gewohnheit zusammen und
habt euch schon lange auseinander gelebt, wie man so sagt.“
Berta
ließ Liana Zeit, über ihre Worte nachzudenken. Dann fragte sie: „Was machst du
in der Zeit, wo dein Freund zum Fußball geht?“
Ein
Strahlen überzog Lianas Gesicht. „Ich gehe hinaus in die Natur oder ich stehe
an meiner Staffelei. Du musst wissen, das ich vor einiger Zeit das Malen für
mich entdeckt habe.“
Berta
freute sich, dass es ihr gelungen war, die junge Frau ein bisschen aufzumuntern.
Aus den Augenwinkeln heraus sah sie einen Mann an ihnen vorüberjoggen. Abrupt
blieb er stehen und lief zurück – direkt auf sie zu.
„Liana?
Das ist ja ein Zufall! Warum sitzt du hier auf der Wiese? Hast du dich beim
Joggen verletzt? Sag, hast du geweint?“
Ziemlich
viele Fragen auf einmal fand Berta und kroch wieder ein Stückchen zurück in ihr
Häuschen. Man konnte ja nie wissen. Obwohl, der Mann sah ziemlich nett aus.
„Nein,
ich habe nicht geweint“, flunkerte Liana ein zweites Mal und zeigte zu den
Bäumen: „Pollenallergie!“
Liana
ahnte, dass sie Michel nichts vormachen konnte, dafür kannten sie sich zu gut
und zu lange.
Berta
kroch mutig aus ihrem Haus heraus und meinte an Liana gerichtet: „Willst du uns
gar nicht vorstellen?“
„Das
ist … ich weiß ja gar nicht, wie du heißt?“, fiel Liana auf.
„Berta“,
antwortete Berta und wie heißt ihr?
„Ich
heiße Liana und das ist Michel. Wir kennen uns schon seit Kindertagen. Als wir
noch im Kindergarten waren, haben wir allen erzählt, dass wir eines Tages
heiraten werden.“ Beide lachten bei dieser Erinnerung.
Berta
sah von einem zum anderen und wusste: Jetzt wurde sie hier nicht mehr
gebraucht. So schnell wie es einer Schnecke nun mal möglich ist, machte sie
sich von dannen. Das sie hungrig war, erschien ihr in diesem Moment nebensächlich.
Ein
Jahr später saßen die beiden Menschenkinder im Fond einer mit Blumen
geschmückten schwarzen Limousine. Als sie an der Wiese vorbei fuhren, auf der
Berta lebt, nahm Michel Lianas Hand – und von der nahe gelegenen Kirche läuteten
die Hochzeitsglocken.
©
Martina Pfannenschmidt, 2016