Freitag, 10. November 2017

Ein sinnloser Kampf

Liana musste sich ablenken und nachdenken. Das konnte sie am besten beim Laufen. Diesmal schlug sie nicht den Weg Richtung Park ein, da waren ihr viel zu viele Menschen. Sie würde in einer anderen Gegend joggen, die nicht so überlaufen war und wo es auch Grünflächen gab.
Nach ein paar Kilometern musste sie sich eingestehen, dass ihr das Joggen diesmal nicht half, ihren Gedanken eine andere Richtung zu geben. Sie stoppte, setzte sich mitten auf eine Wiese, pflückte ein Gänseblümchen und zog an den weißen Blütenblättchen.
„Er liebt mich, er liebt mich nicht“, murmelte sie. Ein paar Tränen sammelten sich in ihren Augen, kullerten die Wangen herunter und tropften direkt auf das Schneckenhaus von Berta.
Nanu, dachte diese. Gerade schien noch die Sonne und jetzt klopft ein Regentropfen auf mein Häuschen? Vorsichtig streckte sie zunächst einen, dann den anderen Fühler heraus. Ne, kein Regen – blauer Himmel und Sonnenschein. – Tropf! – Da, schon wieder? Woher kam dieses Phänomen?
Berta sah nach oben und direkt in Lianas trauriges Gesicht. Wieder löste sich eine Träne aus ihren Augen. Berta ging sofort in Deckung. Sie war zwar nicht feige, doch so ein Tropfen auf dem Kopf konnte einem schon Kopfschmerzen bereiten. Aus ihrem Häuschen heraus beobachtete sie das seltsame Treiben der jungen Frau. Was murmelte sie da eigentlich?
„He du“, rief Berta, „deine Tränen tropfen direkt auf mein Häuschen.“
Liana entdeckte die Schnecke und wischte flugs mit einer Handbewegung ihre Tränen aus dem Gesicht. „Entschuldigung!“, erwiderte sie und wunderte sich gleichzeitig darüber, dass sie mit einer Schnecke sprach.
„Warum weinst du?“, wollte Berta wissen.
„Ich weine ja gar nicht. Das liegt an den Pollen.“
„Ah“, schmunzelte Berta, „verstehe. Pollenallergie!“
Liana nickte.
Wer die Schnecke kannte, wusste, dass sie nicht so schnell aufgab.
„Hat die Pollenallergie auch einen Namen?“
Sofort sammelten sich wieder Tränen in Lianas Augen. Sie wischte sie fort und antwortete: „Jochen!“
„Und was hat dieser Jochen getan, dass du hier auf dieser Wiese sitzt, ein Gänseblümchen verstümmelst und weinst?“
„Er hat Schluss gemacht“, schluchzte Liana und fügte nach einiger Zeit hinzu: „Ich werde aber um ihn kämpfen.“
Darauf erwiderte Berta zunächst nichts, doch dann sprach sie:
„Weißt du, ich beobachte die Menschen schon seit einigen Jahren. Die meisten wünschen sich Frieden für sich und die Welt. Auf der anderen Seite hören sie aber nicht auf, zu kämpfen. Um eine vergangene Liebe zum Beispiel, so wie du jetzt, oder um einen besser bezahlten Arbeitsplatz. Ihr kämpft sogar um Aufmerksamkeit. Wie soll denn da Frieden entstehen? Ich weiß, ihr kämpft nicht mit Waffen aber ihr kämpft in euren Gedanken. Das solltet ihr Menschen bedenken. - Du bist übrigens nicht das erste Menschenkind, das hier auf dieser Wiese sitzt und seine Tränen vergießt. Manchmal muss man halt erkennen, wenn etwas zu Ende ist.“
„Aber ich liebe ihn doch“, widersprach Liana.
„Vielleicht solltest du dich mal fragen, ob es wirklich noch Liebe ist, was du für ihn empfindest. Vielleicht ist es inzwischen nur noch Freundschaft oder du hast Angst vor dem Alleinsein“.
„Früher, als wir frisch verliebt waren“, überlegte Liana laut, „ist er nicht an jedem Sonntag zum Fußballplatz gegangen. Da haben wir etwas gemeinsam unternommen. Heute geht jeder seinen Weg.“
„Siehst du. Das meine ich. Vielleicht seid ihr nur noch aus Gewohnheit zusammen und habt euch schon lange auseinander gelebt, wie man so sagt.“
Berta ließ Liana Zeit, über ihre Worte nachzudenken. Dann fragte sie: „Was machst du in der Zeit, wo dein Freund zum Fußball geht?“
Ein Strahlen überzog Lianas Gesicht. „Ich gehe hinaus in die Natur oder ich stehe an meiner Staffelei. Du musst wissen, das ich vor einiger Zeit das Malen für mich entdeckt habe.“
Berta freute sich, dass es ihr gelungen war, die junge Frau ein bisschen aufzumuntern. Aus den Augenwinkeln heraus sah sie einen Mann an ihnen vorüberjoggen. Abrupt blieb er stehen und lief zurück – direkt auf sie zu.
„Liana? Das ist ja ein Zufall! Warum sitzt du hier auf der Wiese? Hast du dich beim Joggen verletzt? Sag, hast du geweint?“
Ziemlich viele Fragen auf einmal fand Berta und kroch wieder ein Stückchen zurück in ihr Häuschen. Man konnte ja nie wissen. Obwohl, der Mann sah ziemlich nett aus.
„Nein, ich habe nicht geweint“, flunkerte Liana ein zweites Mal und zeigte zu den Bäumen: „Pollenallergie!“
Liana ahnte, dass sie Michel nichts vormachen konnte, dafür kannten sie sich zu gut und zu lange.
Berta kroch mutig aus ihrem Haus heraus und meinte an Liana gerichtet: „Willst du uns gar nicht vorstellen?“
„Das ist … ich weiß ja gar nicht, wie du heißt?“, fiel Liana auf.
„Berta“, antwortete Berta und wie heißt ihr?
„Ich heiße Liana und das ist Michel. Wir kennen uns schon seit Kindertagen. Als wir noch im Kindergarten waren, haben wir allen erzählt, dass wir eines Tages heiraten werden.“ Beide lachten bei dieser Erinnerung.
Berta sah von einem zum anderen und wusste: Jetzt wurde sie hier nicht mehr gebraucht. So schnell wie es einer Schnecke nun mal möglich ist, machte sie sich von dannen. Das sie hungrig war, erschien ihr in diesem Moment nebensächlich.
Ein Jahr später saßen die beiden Menschenkinder im Fond einer mit Blumen geschmückten schwarzen Limousine. Als sie an der Wiese vorbei fuhren, auf der Berta lebt, nahm Michel Lianas Hand – und von der nahe gelegenen Kirche läuteten die Hochzeitsglocken.


© Martina Pfannenschmidt, 2016