Freitag, 10. November 2017

Des Lebens müde

Hanne saß am Fenster ihres Zimmers. Sie konnte von hier aus das Treiben im Eingangsbereich des Altenheimes beobachten. Das war das einzig Spannende in ihrem Leben, seit sie vor ein paar Wochen hier eingezogen war. Sie konnte sich noch gar nicht damit abfinden, dass sie nun hier war. Wie gerne wäre sie in ihren eigenen 4 Wänden geblieben, doch sie musste sich eingestehen, dass sie ihren Alltag alleine nicht mehr meistern konnte.
Leise klopfte jemand an ihre Tür.
„Herein“, rief Hanne und wischte heimlich eine Träne fort. Es war Henriette. Sie wohnte im Zimmer nebenan und sie war eine wirklich liebenswerte Person. Die einzige, mit der Hanne bisher ein bisschen Kontakt hatte.
„Ich wollte dich nur erinnern“, sagte Henriette fürsorglich, „es gibt jetzt Mittagessen.“
Hanne sah auf die Uhr. Sie konnte sich einfach noch nicht daran gewöhnen, so früh zu Mittag zu essen. Zuhause hatte sie frühestens um halb zwei gegessen. Hier stand das Essen um Punkt 12 Uhr auf dem Tisch.
Hanne erhob sich. „Danke, Henriette, ich hätte es wohl wieder vergessen.“ Sie griff nach ihrem Rollator und die beiden gingen in Richtung Fahrstuhl, um in den Essenssaal zu gelangen.
„Früher“, erzählte Hanne, „habe ich immer die Treppe genommen. Ich bin nie mit einem Fahrstuhl gefahren oder sehr selten. So habe ich mich fit gehalten. Aber heute wollen die alten Knochen nicht mehr.“
Henriette nickte zustimmend.
Die beiden Frauen setzten sich zu zwei anderen Bewohnerinnen an den Tisch. Das Essen wurde aufgetragen und bald darauf löffelten alle stumm ihre Suppe. Hanne hatte einen dicken Kloß im Hals. Es schmeckte einfach nicht wie zu Hause. Aber sie wollte nicht jammern. Das passte einfach gar nicht zu ihr und sie ärgerte sich über sich selbst, weil sie in den letzten Wochen so ein Jammerlappen geworden war. Aber in ein Altenheim zu ziehen war so, als würde man in eine Wartehalle geschoben, um auf seinen Tod zu warten.
Später saß sie wieder am Fenster ihres Zimmers und blickte nach draußen. Sie dachte an ihren Mann, der vor ein paar Jahren verstorben war. Er hatte es jetzt leichter als sie. Er hatte dieses Leben schon hinter sich gebracht. Sie schüttelte mit dem Kopf. „Sag mal, Hanne, bist du noch bei Trost?“, fragte sie sich selbst. Es geht doch nicht darum, das Leben hinter sich zu bringen. Wie hatte eine weise Frau einmal gesagt? ‚Es geht nicht darum, dem Leben mehr Tage zu geben, sondern den Tagen mehr Leben.’ Genau so war es!
Hanne ging ein Gespräch durch den Kopf, das sie vor ein paar Tagen unverfreiwillig belauscht hatte. Zwei Frauen am Nachbartisch hatten sich nach dem Essen darüber unterhalten, dass sie nun einen Mittagsschlaf halten wollten. „So geht der Tag schneller um“, hatte die eine zur anderen gesagt. Das war ganz traurig und zeugte davon, wie lebensmüde diese Frauen sein mussten. Möglichst schnell den Tag hinter sich bringen und dann? Der nächste Tag würde auch keine Freude bringen und der übernächste auch nicht. Sie aßen, schliefen und warteten anscheinend auf den Tod. Das war einfach nur schrecklich und hatte mit einem sinnvoll geführten Leben so gar nichts zu tun. Auch wenn man im Alter nicht mehr so aktiv sein konnte, so konnte man doch Freude am Leben empfinden.
Hanne schloss die Augen: „Ach Fritz, was soll ich denn bloß machen?“, fragte sie in die Stille des Raumes hinein.
Nach einer Weile wurde ihr ganz warm zumute. Es war ihr, als wäre ihr Fritz bei ihr und würde ihr über den Kopf streichen und sie fragen: „Ist das die Hanne, wie ich sie kenne? Was ist denn mit dir los? Wo ist deine Lebensfreude geblieben?“
Ihre Lebensfreude? In der Tat, die war irgendwo auf der Strecke geblieben. Sie hatte sie wohl in ihrer Wohnung zurück gelassen und gar nicht mit hierher gebracht. Das war nicht gut. Sie brauchte ihre Lebensfreude zurück!
Hanne erhob sich, griff erneut nach ihrem Rollator und ging zielstrebig über den Flur, bis sie Marion gefunden hatte, die Leiterin des Hauses.
„Wissen Sie“, begann Hanne, „die Menschen hier benötigen dringend ein bisschen Aufmunterung.“
„Da haben Sie sicher recht“, erwiderte Marion, „doch wissen Sie, uns bleibt so wenig Zeit neben aller Arbeit ...“
Hanne winkte ab und ließ sie gar nicht ausreden. „Ich weiß, ich weiß und es wird ja auch schon einiges angeboten. Doch ich denke, da ist noch mehr möglich. Wenn ich darf, würde ich das gerne in die Hand nehmen. Ich kenne so viele Menschen, die ein ganz besonderes Talent besitzen. Wenn es Ihnen recht wäre, könnte ich fragen, ob jemand bereit wäre, hier den einen oder anderen Nachmittag zu gestalten. In jedem Fall müssen wir auch mal Kinder zu uns einladen. Die haben die Lebensfreude noch in sich. Das wirkt auf ältere Menschen bestimmt ansteckend.“ Hanne war voller Ideen und spürte vor Elan. Erwartungsvoll sah sie Marion an.
„Machen Sie nur. Es ist in unserem Sinn, wenn sich die Bewohner hier wohl und wirklich zuhause fühlen“, entgegnete die Leiterin und freute sich über so viel Engagement.
Hocherhobenen Hauptes ging Hanne zurück in ihr Zimmer. Sie würde ein paar Telefonate führen und zwar sofort.
Abrupt blieb sie stehen und drehte sich um. Hatte da jemand mit ihr gesprochen? Sie hätte geschworen, dass sie gehört hatte: „Da ist sie ja wieder, meine Hanne!“


© Martina Pfannenschmidt, 2015