Freitag, 10. November 2017

Der letzte Schultag

Elli hatte schlecht geschlafen. Das war eigentlich kein Wunder, denn heute war ihr letzter Schultag. 40 Jahre lang unterrichtete sie als Lehrerin an einer Grundschule. Sehr lange, wenn man die Zeit vor sich hat - doch jetzt im Nachhinein waren die Jahre unglaublich schnell vergangen.
Einerseits freute sie sich. Endlich keine Verpflichtungen mehr und Zeit für die Malerei, ihr großes Hobby. Außerdem wollte sie reisen und die Welt sehen. Das hatte sie schon mit ihrer Schwester besprochen.
Ellis Schwester feierte kürzlich ihren 70. Geburtstag und war damit 5 Jahre älter als sie. Früher hatten sie sich nicht so gut verstanden. Der Altersunterschied war zu groß. Doch jetzt, als Erwachsene, kamen sie gut miteinander aus. Im Gegensatz zu Elli hatte Luise geheiratet und eine Tochter bekommen. Nach dem Tod des Mannes vor 3 Jahren unternahmen Elli und Luise viel gemeinsam. Luises Tochter wohnte mit ihrer Familie auch ganz in der Nähe. 
Elli hatte keinen Appetit. Sie bekam ihr Brot, das geschmiert vor ihr lag, einfach nicht herunter. Ein dicker Kloß saß im Hals. Hoffentlich würde sie die Feierlichkeiten überstehen, ohne in Tränen auszubrechen. Elli schalt sich selbst als dumm.
„Hör auf, dumme Pute. Freu dich auf deinen Ruhestand!“, sprach sie sich Mut zu.
Es wurde Zeit. Sie musste los. Noch nie war sie zu spät gekommen und heute, an ihrem letzten Tag, wollte sie auch pünktlich sein.
Mit klopfendem Herzen stieg Elli in ihr kleines Fahrzeug und fuhr den ihr bekannten Weg zur Schule. Schon komisch, dass sie ab Morgen diese Strecke nicht mehr würde fahren müssen.
Da stand sie vor ihr – ihre Schule. Sie fühlte sich wirklich mit diesem Gebäude und den Menschen darin stark verbunden. Doch jetzt sollte ein neues Leben beginnen. Sie wollte sich den letzten Lebensabschnitt so schön wie möglich gestalten.
Vor einem halben Jahr war ihre Mutter im Alter von 90 Jahren verstorben. Wenn sie auch so alt werden würde, dann hätte sie noch 25 schöne Jahre vor sich, rechnete sich Elli aus.
Ihre Mutter war in den letzten Jahren in einem Pflegeheim gewesen. Luise und sie hatten die Mutter häufig besucht, denn Elli hatte ein sehr enges Verhältnis zu ihr.
Ihr Glaube war, dass sie sich irgendwann in einer anderen Welt wieder sehen würden, doch die Mutter gehen zu lassen, war sehr schwer. Schließlich hatte sie die ersten Monate ihres Lebens unter ihrem Herzen verbracht und ihre geliebte Mutter war immer ihre wichtigste Bezugsperson gewesen.
Elli stieg aus und ging zum Gebäude. Ihr Herz klopfte. Sie wurde schon von ihren Kollegen erwartet und in die Aula geführt.
Alle Schulkinder saßen dort, das gesamte Lehrerkollegium und natürlich wichtige Menschen der Schulaufsichtsbehörde. Sie war immer mit allen gut ausgekommen.
Dies wurde in den vielen Reden, die gehalten wurden, immer und immer wieder zum Ausdruck gebracht. ‚Ihre’ Kinder hatten ein Lied einstudiert, das sie jetzt voller Inbrunst zum Besten gaben.
„Nicht weinen, Elli. Jetzt nur nicht weinen“, sagte sie sich.
Am Schluss übergab man ihr einen Liegestuhl. Jetzt solle sie sich ausruhen und die Tage in diesem Stuhl verbringen, hatte man ihr mit auf den Weg gegeben. Alles war wie in einem Film an ihr vorüber gezogen.
Elli hatte auch noch ein paar Worte an all die lieben Menschen gerichtet und man merkte ihrer Stimme an, wie schwer ihr der Abschied fiel.
Elli saß wieder in ihrem Auto und fuhr nach Hause. Ein eigenartiges Gefühl beschlich sie. Ihr neues Leben – jetzt begann es.
Luise stand schon vor Ellis Haustür und schwenkte eine Flasche Sekt.
„Herzlich Willkommen im Ruhestand, liebe Schwester“, hörte Elli Luise rufen.
Elli freute sich von ganzem Herzen, ihre Schwester zu sehen. Schön, dass sie jetzt nicht alleine sein musste.
Luise hatte einen Prospekt in der Hand. „Komm, lass uns ins Haus gehen und auf den Tag anstoßen und dann wollen wir uns eine Reise aussuchen. Ab in die Sonne“, rief Luise.
Die Geschwister leerten die Flasche Sekt und saßen mit hochroten Köpfen am Tisch. Schnell waren sie sich einig: Sie wollten nach Gran Canaria. Noch am selben Nachmittag buchten sie die Reise. In 3 Wochen sollte es losgehen.
Elli genoss die ersten Tage ihrer neu gewonnenen Freiheit. Keine Termine, keine Konferenzen, keine Korrekturen. „Man könnte sich an diesen Zustand gewöhnen“, dachte sie nach einer Woche. „Ferien für immer. Ungewohnt, aber dennoch nicht zu verachten“.
Beim Frühstück war er wieder da gewesen, der Schmerz in der rechten Brust. „Wird wohl nichts Schlimmes sein“, dachte Elli. „Ich hab mich letztens an der Brust gestoßen. Bestimmt ist dort ein Bluterguss entstanden, den man nicht sehen kann.“
Heute war der erste Urlaubstag. Gestern waren sie angekommen, hatten kurz die nähere Umgebung in Augenschein genommen und nun ging der Urlaub richtig los. Sie wollten Ausflüge machen und sich ein Auto mieten. Richtig schön sollte es werden. Blöd nur, dass dieser Schmerz in der Brust nicht nachließ.
Die beiden verbrachten herrliche 3 Wochen und am letzten Abend vertraute sich Elli ihrer Schwester an. Sie erzählte ihr von dem Schmerz in der Brust und dass ihr nun doch ein wenig mulmig sei.
Luise bestärkte ihre Schwester darin, sofort zum Arzt zu gehen, sobald sie wieder zu Hause angekommen seien, um das Schlimmste auszuschließen.
„Das Schlimmste“, dachte Elli, „ja, das Schlimmste wäre natürlich die Diagnose Krebs.“
Elli hatte viele Untersuchungen hinter sich und nun bestätigte sich ‚das Schlimmste’. Brustkrebs hatte der Arzt gesagt. Jetzt, wo sie mit ihrem Leben noch einmal so richtig durchstarten wollte, ausgerechnet jetzt.
Obwohl, wenn Elli nachdachte, dann fragte sie sich, wann ihr die Krankheit denn besser gepasst hätte. Irgendwie plant man Krankheit nicht ein. Sie wirft die Menschen aus der Bahn. Krankheit, wozu gibt es Krankheiten?
Elli haderte mit ihrem Schicksal. Wieso ich, wieso jetzt? Doch nach ein paar Tagen und vielen Gesprächen mit Luise und ihrer Familie hatte sie sich entschieden. Sie wollte sich operieren lassen. Der Tumor sollte entfernt werden.
Ein Jahr später – Ellis Operation lag lange hinter ihr. Sie hatte noch ein paar Bestrahlungen bekommen und eine Kur gemacht. Elli war als geheilt entlassen worden.
Regelmäßige Untersuchungen standen ihr zwar weiterhin bevor, doch im Großen und Ganzen ging es ihr wieder gut.
 „Glück gehabt“, dachte Elli. Doch der Gedanke, woher die Krankheit kam und warum sie krank geworden war, ließ sie nicht los. Sie kaufte Bücher und las eines nach dem anderen, um dem ‚Geheimnis’ einer Erkrankung auf die Spur zu kommen.
In einem Buch las sie, dass viele Frauen nach dem Tod ihrer eigenen Mutter an Brustkrebs erkranken – an der Mamma (lat. Brust). Eine sehr interessante Theorie, fand Elli. Und es traf ja auch auf sie zu. Sie nahm sich fest vor, sich weiter in diese Thematik einzulesen, um besser zu verstehen, weshalb man krank wurde.
Sie kam der ganzheitlichen Behandlung auf die Spur und sie erkannte, dass es immer einen Zusammenhang zwischen einer Krankheit und einem seelischen Leid gibt und noch etwas ging Elli auf: Vielleicht hätte sie sich niemals auf die Suche nach dem Sinn des Lebens und nach dem Sinn von Krankheiten gemacht, wäre sie gesund geblieben.

© Martina Pfannenschmidt, 2014