Freitag, 10. November 2017

Das Lavendelmädchen


Hoch schwanger brachte Elisabeth ein paar Scheite Holz ins Haus. Das Feuer drohte zu erlischen. Ein schwerer gusseiserner Topf stand auf der Feuerstelle. Mit einem großen Holzlöffel rührte sie den dicken Brei, der sie später sättigen sollte.
Elisabeth krümmte sich. Durch ihren Bauch zog ein Schmerz, der sie so plötzlich wie ein Blitz traf. Sie brach neben der Feuerstelle zusammen. In dem Moment betrat ihr Mann das Haus. Er erschrak, als er seine Frau so sah.
„Schnell“, bat sie, „die Hebamme soll kommen.“
Jakob lief ein paar Häuser weiter, um sie zu holen. Es war ihr erstes Kind und er war sehr hilflos.
Ohne anzuklopfen riss er die schwere Holztür auf und rief sogleich nach Magdalena, der Hebamme. „Was ist los, Jakob?“, fragte sie, als er so aufgelöst vor ihr stand.
„Komm schnell, Magdalena, es bleibt keine Zeit. Elisabeth, sie hat starke Schmerzen. Das Kind, es will kommen. Sie darf nicht sterben, hörst du Magdalena, meine Frau darf nicht sterben!“
„Lauf und mach heißes Wasser“, herrschte sie ihn an. Sie fühlte, dass die Geburt kurz bevor stand und die Situation sehr ernst war. Schnell schnappte sie ihren Beutel und eilte dem Mann hinterher.
„Wir müssen sie aufs Bett legen. Es sieht nicht gut aus“, sagte sie mehr zu sich selbst.
Jakob hörte ihre Worte jedoch und sie gingen ihm durch Mark und Bein. Seine geliebte Frau, sie durfte nicht sterben. Was sollte er allein mit einem Kind?
Die Hebamme untersuchte die Schwangere.
„Es tut so weh“, stöhnte sie. „Es tut so höllisch weh.“
„Das Kind, es liegt noch nicht richtig. Wir müssen ihm helfen, sich zu drehen.“
Elisabeth schrie auf. Sie wurde von einer weiteren heftigen Wehe geschüttelt. Die erfahrene Hebamme nutzte diese, um das Kind zu drehen. Rosa, die Mutter von Jakob, betrat den Raum, um Magdalena und ihrer Schwiegertochter beiseite zu stehen. Es war nicht die erste Geburt, der sie beiwohnte. So war sie eine wertvolle Hilfe.
Die Stunden vergingen. Elisabeth wurde von heftigen Wehen durchzogen und dabei immer schwächer. Dann endlich. Das Kind war da. Die Nabelschnur hatte sich um seinen Hals gelegt, aber es lebte. Mit schnellen Griffen entfernte Magdalena diese Schlinge, damit das Kind nicht erstickte. Sie gab ihm einen kurzen Klaps auf den Po. Endlich: Der ersehnte Schrei.
„Elisabeth, schau, es ist ein Mädchen“, sagte die Hebamme und hielt das Kind kurz hoch, damit die Mutter es sehen konnte. Anschließend durchtrennte sie fachgerecht die Nabelschnur. Sie übergab das Kind an die Großmutter, damit diese es in ein Laken hüllte.
Die Hebamme kümmerte sich derweil um die junge Mutter. Die Nachgeburt wollte sich nicht lösen. Magdalena legte warme Tücher auf den Bauch und wandte ein paar hilfreiche Handgriffe an. So löste sie sich. Jedoch konnte sie gegen die einsetzende starke Blutung nichts tun. Die geschwächte Frau würde vor ihren Augen verbluten. Diese Momente waren furchtbar. Ebenso wie die, ein totgeborenes Kind zu holen.
Elisabeth lag blass und erschöpft auf ihrem Laken. Jakob, ihr Mann, betrat den Raum und erfasste sogleich die Situation.
„Du darfst nicht sterben, Elisabeth“, wiederholte er wieder und wieder. „Ich will das Kind nicht ohne dich“, schrie er. „Hörst du. Mach es tot Mutter, mach es tot. Meine Elisabeth soll leben. Lieber soll das Kind sterben.“
„Junge, was sagst du da?“, schrie seine Mutter entsetzt. „Du versündigst dich vor Gott. Deine Frau wird sterben. So ist es sein Wille. Aber dein Kind, es wird leben.“
„Gebt mir mein Mädchen“, bat Elisabeth mit schwacher Stimme. Die Hebamme legte das Neugeborene in ihre Arme. „Sie soll Katharina heißen“, hauchte die Sterbende. Mit letzter Kraft wandte sie sich der Hebamme zu. „Nimm du sie zu dir, Magdalena. Ich glaube, so ist es von Gott gewollt.“
„Nein!“, war ihre erste Reaktion. „Nein, niemals. Das ist unmöglich!“
„Sie kann nicht bei Jakob bleiben. Er wird sie töten. Erfüll mir meinen letzten Wunsch, bitte!“
Magdalena erhörte das Flehen der Mutter dann doch, und versprach, dass Kind zu sich zu nehmen und es aufzuziehen. Elisabeth verstarb noch zur selben Stunde.

Katharina lebte nun schon seit zwölf Jahren bei Magdalena und ihrem Mann. Sie wusste nicht davon, dass ihre leibliche Mutter bei ihrer Geburt verstorben war und auch nicht, dass Jakob, ihr Nachbar, ihr leiblicher Vater war. Es war allen Beteiligten gelungen, dies zu verschweigen. Für das Kind waren Magdalena und Mychell seine Eltern. Dass es keine weiteren Geschwister gab, wunderte Katharina nicht.
Sie war ein liebenswertes Mädchen, das sich am liebsten draußen in der Natur aufhielt. Magdalena konnte sich ein Leben ohne sie gar nicht mehr vorstellen. Wenn sie gemeinsam Heilkräuter sammelten, waren sie sich besonders nahe. Schon in ganz jungen Jahren konnte Katharina die meisten der Kräuter mit Namen benennen und sie wusste, wie sie angewandt werden mussten. So sollte der Tee des Ruprechtskrautes bei Kinderlosigkeit helfen. Auch hatte ihre Mutter sie bereits in die Geheimnisse der Yamswurzel eingeführt. Die verhütende Wirkung war ihr bekannt, doch es war für die Hebamme gefährlich, den jungen Frauen davon zu erzählen. Eine Verhütung wurde von Seiten der Kirche nicht geduldet und hart bestraft. Es hätte sie das Leben kosten können, wenn herausgekommen wäre, dass sie dieses Wissen weitergab. Aus diesem Grunde musste sie äußerst vorsichtig sein.
Katharina liebte besonders den Lavendel. Wenn ihre Mutter daraus wertvolles Öl herstellte, war sie stets zugegen. Sie genoss den Geruch und durfte sich auch von dem Lavendelöl nehmen. Magdalena gebrauchte es ansonsten für die Schwangeren. Es hatte eine beruhigende Wirkung auf sie. Weil Katharina immer so wundervoll nach diesem Öl duftete, war sie im ganzen Ort als das ‚Lavendelmädchen’ bekannt.
Wurde ihre Mutter zu einer Geburt gerufen, folgte sie ihr heimlich, stand hinter den Fenstern und beobachtete das Treiben und das Tun der Hebamme. Sie hatte großen Respekt vor der Arbeit ihrer Mutter und war stolz darauf, ihre Tochter zu sein. Für sie kam später kein anderer Beruf in Frage: Sie würde auch einmal Hebamme werden und sich von ihrer Mutter in alle Geheimnisse dieses Berufes einweihen lassen.
Oft sah man das Mädchen in der Nähe eines Teiches spazieren gehen. Eine Storchenfamilie, die dort lebte, kam dem Kind dabei sehr nahe. Adebar ließ sich sogar von ihr streicheln. Außenstehende konnten den Eindruck gewinnen, als würde Katharina mit ihm ein Gespräch führen. Dass es wirklich so war, wussten nur ihre Eltern. Das Mädchen war mit der Gabe geboren worden, sich mit den Tieren zu verständigen. Eine besonders enge Beziehung hatte sie zu den Störchen.
„Adebar“, fragte sie ihn, als er neben ihr stand und Katharina sanft über sein Gefieder strich, „sag mir, warum sagen die Menschen, dass du die Kinder bringst?“
„Das ist eine sehr alte Geschichte, mein liebes Kind. Es steckt ein Geheimnis darin, das wir nicht Vielen preisgeben dürfen. Es ist kein Märchen, dass wir etwas mit der Geburt eines Kindes zu tun haben. Es entspricht der Wahrheit. Schau dir deinen Bauchnabel an. Dort hinein geben wir den Bauplan Gottes und damit die Erlaubnis, in diesem Körper ein Kind entstehen zu lassen. Ohne diesen göttlichen Plan würde keine Zelle wissen, welche Aufgabe sie hat. Nur dadurch kann ein Mensch entstehen.“
„Du hast Recht. Es wäre nur ein Zellhaufen, der nicht weiß, wozu er da ist.“
„Siehst du.“
„Wie bringst du den Plan, Adebar. Erzähl mir, wie geht es vonstatten?“
„Nachts, mein Kind, wenn alle schlafen, schleiche ich mich ins Zimmer und gebe diesen Plan, der sich in einer weißen Kugel befindet, durch den Bauchnabel in die Bauchhöhle der werdenden Mutter. Von dort rollt er an seinen Platz.“
„Deshalb hast du einen so langen und spitzen Schnabel, damit du dort hinein reichst. Wahrscheinlich sind deine Beine so lang, damit du dich neben das Bett der Frau stellen kannst. Ist es so?“
„Ja, so ist es. Ohne uns gäbe es kein einziges Kind auf dieser Welt. Wie du an unserem Schreiten erkennst, macht uns das sehr stolz.“ Nach einer Weile fügte er hinzu: „Irgendwie hat es den Anschein, als ahnten die Menschen von unserem Tun.“
„Adebar?“
„Ja!“
„Werde ich auch einmal Kinder haben?“
„Ja, Katharina. Doch du wirst nicht ein Kind haben, sondern hunderte.“
„Hunderte?“, fragte sie ungläubig.
„Ja, Katharina, hunderte! Weißt du, mein Kind, deine Mutter konnte keine Kinder bekommen. Deshalb musste eine andere Frau dich austragen. Doch du warst immer als Kind für Magdalena bestimmt, denn du sollst eine großartige und bekannte Hebamme werden. Du wirst des Königs Kinder auf die Welt bringen und hunderte andere. Du wirst die Tochter des Königs vor dem Tod bewahren und deshalb vom Königshaus geschützt sein. In deinem Beruf wirst du aufblühen und es wird nichts Schöneres für dich geben, als den Frauen bei der Geburt zu helfen. Du wirst weise sein und gebildet und jedermann wird deinen Rat suchen. Glaube mir, dir wird kein eigenes Kind fehlen. Deine eigenen Kinder werden in einem anderen Leben zu dir finden.“

© Martina Pfannenschmidt, 2015