Freitag, 10. November 2017

Das Klassentreffen

Simone hielt das Foto ihrer ehemaligen Klasse in ihren Händen. Der eine oder andere Name fiel ihr wieder ein. Sie schmunzelte bei den Erinnerungen.
Olaf - er war der Hallodri der Klasse – doch er sah so unverschämt gut aus. Es gab kein Mädchen, das nicht in ihn verliebt war. Scheinbar schien die Sonne nur für ihn.
Es gab keinen Tag, an dem er nicht den Pausenclown spielte oder in einer anderen Form auffiel. Bei den Lehrern war er nicht so beliebt, wie bei den Mädchen der Schule.
 Olaf war kein besonders guter Schüler, doch Simone ahnte, dass er auch so seinen Weg gemacht hatte. Mit seinem Charme machte er sicher das eine oder andere Defizit wett.
Simone gehörte zu den Mädchen, die keine Chance bei ihm hatten. Er war mit dem hübschesten Mädchen der Schule liiert. Da hatte sie keine Option.
Simone war pummelig, trug eine Zahnspange und in ihrem Gesicht prangten dicke rote Pickel. Doch schauen und träumen war ja nicht verboten. Und Simone träumte – an jedem Tag den der Herrgott gab.
Dann sah sie sich in seinen Armen liegen, spürte seine Küsse und sah die anderen Mädchen neidvoll am Rand stehen.
Heute war alles anders. Die Pickel der Pubertät gehörten lange der Vergangenheit an. Sie hatte das Schwimmen für sich entdeckt und mit einer zusätzlichen Ernährungsumstellung ihr Gewicht in den Griff bekommen.
Heute war Simone schlank. Die Zahnspange hatte ihre Zähne gerichtet und ihr Lächeln hatte Charme. 
Es war kaum zu glauben, dass seit der Schulentlassung 20 Jahre ins Land gezogen sein sollten.
Ines lud zu einem Klassentreffen ein und Simone sagte ihr Kommen zu. Sie freute sich darauf, den einen oder anderen wieder zu sehen.
Bestimmt waren die meisten inzwischen verheiratet und hatten, genau wie sie, Kinder.
 Simone war vor 13 Jahren Mutter von Zwillingen geworden. Sie gab damals ihren Beruf auf und kümmerte sich seither um die kleine Familie, das Haus und den Garten. Sie ging in ihrer Rolle als Hausfrau und Mutter auf.
Simone wollte das Klassentreffen mit ein paar Tagen Urlaub bei ihren Eltern verbinden.
Sie hatte für ihre Familie vorgesorgt. In der Kühltruhe stand das Essen für jeden Tag, so musste die Bande nicht verhungern.
Am späten Nachmittag bezog sie das Gästezimmer ihres Elternhauses.
Als sie am Abend auf dem Weg zum Klassentreffen war, stellte sich ein Kribbeln in der Bauchgegend ein. Sie konnte eine gewisse Aufgeregtheit nicht leugnen.
„Ob ‚Er’ auch wohl da ist?“, fragte sich Simone und schüttelte gleich darauf über sich selbst den Kopf. Es war über 20 Jahre her, doch die Erinnerung an Olaf und ihre damaligen Träume waren noch sehr präsent. 
Es waren schon einige ihrer ehemaligen Mitschüler anwesend und Simone wurde mit einem lauten „Hallo, wer bist du denn?“, begrüßt. Die meisten ihrer Mitschüler erkannten sie nicht und auch Simone hatte Probleme mit dem Wieder- erkennen. 
Die Tür öffnete sich und es war Simone, als wäre sie noch ein Teenager; als hätten die Schmetterlinge von damals nur auf diesen Moment gewartet. Sie erkannte Olaf sofort.
Er kam auf sie zu, reichte ihr die Hand und sagte: „Hallo, schöne Frau. Du sollst auch in meiner Klasse gewesen sein? Das halte ich für ein Gerücht. An dich könnte ich mich ganz sicher erinnern.“ 
Es war Ina, die neben ihnen stand, und Olaf aufklärte, wer sie war. Simone spürte, wie sein Blick sie musterte.
„Jetzt verstehe ich dass endlich, wie aus einer Raupe ein Schmetterling wird“, hörte Simone ihn sagen.
Vielleicht war es nicht das intelligenteste Kompliment, doch es verfehlte nicht seine Wirkung.
Es wurde ein weinseliger Abend. Sie erzählten durcheinander und hatten viel Spaß. Natürlich fehlten nicht die Anekdoten von damals.
Alle schwelgten in Erinnerungen.
Simone bemerkte die Blicke, die Olaf ihr sandte, doch sie ignorierte sie. Dass ihr dabei ein wohliger Schauer über den Rücken lief, konnte er ja nicht sehen.
Jetzt wurde es aber Zeit, nach Hause zu gehen. Simone hatte eindeutig zu viel Wein getrunken.
Sie verabschiedete sich von Ines und bedankte sich nochmals für die Organisation dieses wunderbaren Abends.
Man versprach sich, den Kontakt nicht wieder abbrechen zu lassen, ahnte jedoch, dass man es nicht einhalten würde.
Simone stand am Ausgang, als sie gefragt wurde: „Darf ich dich nach Hause begleiten?“
Sie wusste, wer hinter ihr stand und nickte nur. Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her. Dann unterbrach Olaf die Stille.
„Du bist eine wunderschöne Frau geworden, Simone“, sagte er. „Hätte ich dir doch damals nur mehr Beachtung geschenkt. Wie dumm ich war.“
Seine Worte waren wohl gewählt und fanden ihr Ziel. Simone fühlte sich in seiner Nähe sehr wohl.
Olaf blieb stehen, drehte Simone zu sich und küsste sie. Einfach so. Und sie ließ es geschehen. Endlich! Endlich erfüllten sich ihre Träume.
Da Olaf auch ein paar Tage in seiner Heimat verbringen wollte, verabredeten sie sich für den kommenden Tag.
Simone wusste, es war ein Spiel mit dem Feuer und doch konnte sie ihm nicht widerstehen.
Seine Worte schmeichelten ihr. Sie ließ einfach alles geschehen, ohne über die Konsequenzen nachzudenken. 
Sie verbrachten einen wundervollen Tag, aßen gemeinsam zu Abend und seine Blicke verrieten ihr, dass er mehr wollte.
Simone war verwirrt. Sie war glücklich verheiratet und jetzt saß sie hier mit ihrer heimlichen Jugendliebe und war kurz davor, ihren Mann mit ihm zu betrügen. 
Simones Handy klingelte. Es waren ihre Zwillinge. Sie erzählten von ihrem Tag und dass sie sich schon sehr auf ihr Wiederkommen freuten.
 Dann war ihr Mann am Apparat. Er würde sie auch sehr vermissen, sagte er ihr und wie sehr er sie lieben würde.
 Simone stand vom Tisch auf, bedankte sich bei ihrem Gegenüber für den schönen Tag und das Essen und verließ schnellen Schrittes das Lokal.
Sie ließ einen verdattert drein schauenden Olaf zurück.
„Danke, lieber Gott“, sagte sie, „dass du gerade noch rechtzeitig die Feuerwehr geschickt hast.“

© Martina Pfannenschmidt, 2014