Freitag, 10. November 2017

Das Bewerbungsgespräch

Eigentlich war Julia selbstbewusst und nicht auf den Mund gefallen, doch bei ihrem ersten Bewerbungsgespräch konnte sie dies nicht unter Beweis stellen. Sie war einfach zu aufgeregt.
Dabei hatte sie mit ihrem Vater ein solches Gespräch nachgestellt und er bläute ihr ein, ja nicht zu lasch die Hand zur Begrüßung zu reichen und nicht von sich aus die Frage nach Urlaubs- und Arbeitszeiten zu stellen.
Das sie pünktlich sein müsse und korrekt gekleidet, stand außer Frage.
Julia speicherte alles in ihrem Kopf ab und war auf die Fragen gut vorbereitet.
Ihre Stärken wollte sie hervorheben und auch auf die Frage, wo sie sich in 5 Jahre sehen würde, hatte sie eine Antwort parat.
Doch was fragte sie der Personalchef? „Was sind ihre Schwächen“. So eine Gemeinheit.
 Natürlich kannte sie die. Zum Beispiel hatte sie wenig Erfahrung darin, Vorträge zu halten oder ein bestimmtes Thema vor anderen zu präsentieren.
 Auch gab es das eine oder andere Computer-programm, mit dem sie auf Kriegsfuß stand. Doch das wollte sie so natürlich nicht sagen.
Also war sie ins Stottern geraten und konnte keinen guten Eindruck hinterlassen – trotz ihres wirklich guten Zeugnisses.
Schon damals ahnte sie, was sich später bestätigte. Sie erhielt mit netten Worten für die Zukunft ihre Bewerbungsunterlagen zurück.
Julias Freunde machten ihr Mut. Nur wenige hatten bereits eine Arbeitsstelle gefunden. Viele bekamen noch nicht einmal ihre Bewerbungsunterlagen zurück. Das war schon frustrierend.
Julia zählte sich eigentlich nicht zu den Pechvögeln dieser Welt, doch auch beim zweiten Bewerbungsgespräch war etwas schief gelaufen.
Sie war zwar noch besser vorbereitet, doch sie plante nicht ein, dass sich der Zug so verspäten würde, dass sie es nicht mehr rechtzeitig zum Bewerbungsgespräch schaffen würde.
Sie rief noch aus dem Zug heraus bei der Sekretärin des Personalchefs an, um ihre Situation zu erklären, doch dieser machte später keinen Hehl daraus, dass ihm dies missfiel.
Dass Züge sich verspäten könnten, sei bekannt und dies müsse man einplanen.
Damals fand sich Julia ungerecht behandelt und war über die Absage ganz froh.
Jetzt stand zum dritten Mal ein Gespräch an. Man könnte meinen, Julia sei nun erfahrener und deshalb ruhiger gewesen, doch das Gegenteil schien der Fall zu sein.
Natürlich hatte sie aus den ersten beiden Vorfällen gelernt und nahm jetzt einen Zug früher, als nötig. Doch man wusste ja nie, was noch alles passieren konnte.
Es war fast so, als hätte sie mit ihren Gedanken alle Schwierigkeiten, die ihr widerfuhren, angezogen.
Sie saß also überpünktlich und schick gekleidet im Zug, kam auch rechtzeitig an, doch auf dem Weg zur Firma blieb sie mit ihrem schmalen Absatz in einem Rost stecken und er brach ab.
In letzter Minute konnte sie den Schaden noch mit einem Sekundenkleber beheben, doch den Kaugummi, den sie sich vor lauter Aufregung in den Mund gesteckt hatte, vergaß sie dabei.
Es machte keinen guten Eindruck, kauend vor dem Gesprächspartner zu sitzen.
„Das kann doch alles nicht wahr sein“, dachte Julia, als sie nach dem Gespräch das Gebäude verließ. Ihr war schon klar, dass wieder eine Absage kommen würde.
Als sie verzweifelt zu Hause am Esstisch saß, tröstete ihre Mutter sie. „Kind, sei nicht allzu traurig. Nichts auf der Welt geschieht ohne Grund.
 Wahrscheinlich war noch nicht die für dich passende Firma dabei. Du hast doch noch einige Bewerbungen verschickt. Da wird schon noch das Richtige kommen. Ich bin ganz zuversichtlich.“
„Schön“, dachte Julia, „dass du zuversichtlich bist. Wichtiger wäre wohl, dass ich es auch bin“. Doch insgeheim hoffte sie natürlich, dass ihre Mutter Recht behalten würde.
Als Julia zwei Tage später nach Hause kam, überraschte ihre Mutter sie mit der Nachricht, dass sie zu einem weiteren Bewerbungsgespräch eingeladen sei.
Einerseits war Julia sauer darüber, dass ihre Mutter ihre Post geöffnet hatte, doch die Freude überwog und so wollte sie keinen Streit vom Zaum brechen.
Doch die Angelegenheit musste sie mit ihrer Mutter in jedem Fall noch einmal besprechen. Ihre Post zu öffnen war echt unmöglich.
Julia ging alle Fragen noch einmal mit ihrem Vater durch. ‚Wie würden Freunde sie beschreiben’ zum Beispiel.
Das war gar nicht so einfach. Man durfte einerseits sein Licht nicht unter den Scheffel stellen, aber andererseits auch nicht zu sehr von sich überzeugt sein. Ein schmaler Grad. Ganz fies war auch die Frage: ‚Warum sollten wir gerade sie einstellen’.
„Weil ich gut mit Stress umgehen kann zum Beispiel“, wäre daraufhin ihre Antwort „und weil ich zuverlässig die Aufgaben erledigen werde, zielorientiert arbeite und mit Fehlern professionell umgehen kann“.
Sie war so gut vorbereitet wie nie. Trotzdem lag ein dicker Kloß in ihrem Magen an dem Morgen ihres Vorstellungsgespräches.
Ihre Mutter machte ihr Mut und so verließ sie dann doch hoch erhobenen Hauptes ihr Elternhaus. Diesmal musste es klappen.
Sie war auf alle Eventualitäten vorbereitet – dachte sie zumindest.
Da Julia viel zu früh an ihrer eventuellen neuen Arbeitsstelle ankam, war noch Zeit für einen Kaffee.
Gerade in dem Moment, als sie die Tür öffnen wollte, wurde diese von drinnen aufgestoßen und eine Frau mit einem Kaffee in der Hand stürzte heraus.
Das heißt, sie stürzte nicht heraus, sondern lief direkt in Julias Arme. Leider hatte sie noch nicht den Deckel auf ihren Kaffeebecher gestülpt, so dass der Kaffee in einem hohen Bogen direkt auf der weißen Bluse von Julia landete.
„Verdammt noch mal“, entfuhr es Julia. „Können sie denn nicht aufpassen. O nein, dass darf doch alles nicht wahr sein. Ich habe gleich ein Bewerbungsgespräch – und jetzt das“.
Tränen traten in ihre Augen. Das Schicksal meinte es nicht gut mit ihr.
„Es tut mir unendlich leid“, sagte die Frau. „Wissen sie was. Ich habe zwar gleich auch ein Bewerbungsgespräch, aber ich schenke ihnen meinen Schal. Wenn sie den tragen, dann sieht man die Kaffeeflecken nicht mehr. Es tut mir wirklich sehr leid, doch mehr kann ich im Moment nicht für sie tun. Natürlich trage ich die Kosten für die Reinigung“.
„Lassen sie nur“, antwortete Julia resigniert. „Die Flecken werden beim Waschen schon heraus gehen“.
„Doch ich bestehe darauf, dass sie meinen Schal nehmen“, sagte die Frau bestimmend und legte Julia diesen in die Hand. „Toi, Toi, Toi für das Gespräch und alles Gute für sie, ich muss jetzt leider weiter.“
Julia suchte die Toilette auf und band den Schal um. Der ließ sie zwar älter wirken, als sie war, doch er verdeckte die Kaffeeflecken ganz gut. Julia hatte jetzt keine Lust mehr auf einen Kaffee und machte sich direkt auf den Weg zum Gespräch.
Die Tür wurde geöffnet und Julia hereingerufen. Ein junger Mann kam schwungvoll auf Julia zu und begrüßte sie freundlich.
„Darf ich vorstellen“, sagte er dann und wandte sich an eine Frau, die Julia noch den Rücken zuwandte, „das ist Frau Müller, unsere Personalchefin“.
Jetzt drehte sich Frau Müller mit einem Lachen im Gesicht zu Julia um.
„Einen hübschen Schal tragen sie da“, hörte Julia Frau Müller sagen, „sie haben einen exzellenten Geschmack.“
Frau Müller war nicht nur ausgesprochen nett, sondern auch die schwungvolle Dame mit dem Kaffee. Von Julia fiel alle Last ab. Sie strahlte Frau Müller an. Beide Frauen verrieten dem jungen Mann nicht, dass sie sich bereits kannten.
Als Julia das Unternehmen verließ, hatte sie ein gutes Gefühl. Sie gab den Schal am Empfang ab mit der Bitte, ihn Frau Müller zu übergeben.
Eine Woche später meldete sich Julias Mutter telefonisch, um ihrer Tochter mitzuteilen, dass sie eine Zusage bekommen habe.
Julia jubelte vor Freude, doch da gab es ein Thema, das sie am Abend unbedingt mit ihrer Mutter klären musste: Das Postgeheimnis!

© Martina Pfannenschmidt, 2014