Freitag, 10. November 2017

Blumen am Wegesrand

Die Sonne schien und Elisabeth entschied, einen ausgiebigen Spaziergang zu machen. Sogleich kam ihr eine Frage in den Sinn, die ihr Vater häufig gestellt hatte, als sie noch ein kleines Mädchen war: „Wollen wir einmal um den Pudding gehen?“
Immer hatte sie mit einer Gegenfrage geantwortet: „Um den kleinen oder den großen Pudding?“
„Natürlich um den Großen!“, hatte ihr Vater geantwortet.
Diesen Weg wollte sie jetzt auch nehmen.
Es war schön, sich an solche Äußerungen zu erinnern. So gerieten all die Lieben, die bereits auf der anderen Seite des Lebens waren, nicht in Vergessenheit.
Ihr Weg führte Elisabeth vorbei an grünen Wiesen, auf denen die unterschiedlichsten Blumen und Kräuter wuchsen, an denen sie sich erfreute. So viele Heilkräuter waren darunter, von denen wir sagen, es seien ‚Unkräuter’. War das nicht geradezu armselig? Das Wissen darum, welche Pflanzen bei welchen Erkrankungen heilsam sind, war den Menschen einst präsenter. Sie kannten noch die Heilmittel die direkt vor unserer Haustür, in der ‚Apotheke Gottes’ wachsen.
Elisabeth hielt einen Moment inne, um die Augen über das frische Grün wandern zu lassen und es in sich aufzusaugen. Im Mai, wenn die Natur voll erwacht, zeigt sie ihr schönstes Kleid. In ein paar Wochen würde sich das Grün verändern. So schön wie jetzt war es nur im Wonnemonat.
Tief atmete sie ein und nahm einen Augenblick auf einer Bank Platz. Sie schloss für einen Moment die Augen und ließ sich die Sonne direkt ins Gesicht scheinen.
Die Sonne - ohne sie würde kein Wachstum möglich sein. Doch ohne Regen auch nicht. Beides benötigen wir. Die Natur hatte es wunderbar eingerichtet. Alles war fantastisch aufeinander abgestimmt. Die Tier- und Pflanzenwelt hielt sich an den göttlichen Plan, der dahinter stand. Elisabeth ärgerte sich: Warum nur greift der Mensch so oft in dieses perfekte System ein?
Elisabeths Blick fiel auf ein Weizenfeld. Wir Menschen legen ein einziges kleines Weizenkorn in die dunkle Ackerfurche und wundern uns kaum noch darüber, dass eines Tages das Feld zart ergrünt und später zu einem gold wogenden Ährenfeld wird. Das ist doch ein Wunder! Haben wir es verlernt, dieses Wunder zu sehen, das mit einem Korn beginnt und mit leckerem Brot für uns endet? Wie viel Mühe steckt darin. Das Korn wird ausgesät, schließlich geerntet und zu Mehl gemahlen. Daraus wird ein Teig zubereitet, der anschließend in der Glut eines Ofens gebacken wird, um eine Familie zu nähren. Elisabeth kam eine Bibelstelle in den Sinn: ‚Denn euer Vater weiß, was ihr bedürft, ehe ihr ihn bittet.’
Sie setzte ihren Weg fort und kam an einem wunderschönen Bauerngarten vorbei. An einem schattigen Plätzchen blühten die ersten Maiglöckchen. Elisabeth erinnerte sich daran, dass eine Legende besagte, dass das Maiglöckchen dort entstanden sei, wo Maria neben dem Kreuz ihre Tränen vergoss. Man sagt dem Maiglöckchen auch nach, es würde dem Herzen wohl tun.
Der Monat Mai kam mit vielen Feiertagen daher. So wurde alljährlich am 2. Sonntag im Mai der Muttertag begangen. Der Tag war dazu da, den Müttern zu zeigen, wie wertvoll sie für die Familie waren. Elisabeth hatte als kleines Mädchen für ihre Mutter zu diesem Tag einen Wiesenstrauß gepflückt.
Es gab wirklich viele Gründe, den Müttern danke zu sagen für alles, was sie taten. Doch brauchte es dazu einen besonderen Tag? Wäre es nicht schöner, sich innerhalb der Familie während des ganzen Jahres durch kleine Gesten zu zeigen, wie wertvoll man füreinander war? Wir sollten uns überhaupt weniger streiten und mehr Verständnis für den anderen aufbringen.
Ihre beiden Kinder, ein Sohn und eine Tochter, waren inzwischen selbst Eltern und Elisabeth bereits Oma. Sie freute sich immer, wenn ihre Kinder und Enkel zu Besuch kamen. Am Muttertag wollten sie alle gemeinsam in die Natur hinausgehen und ein Picknick veranstalten. Jeder steuerte etwas dazu bei, so dass aus dem Muttertag für alle ein Familientag wurde.
Ihre Kinder waren, wie so viele andere Geschwister auch, sehr unterschiedlich in ihrer Art und in ihrem Charakter. Der Sohn ging seinen Pfad geradeaus. Trat ein Problem auf, wurde es aus dem Weg geräumt. Er war sehr begabt, hatte Schule und Studium ohne Mühe geschafft und war inzwischen Schulleiter am hiesigen Gymnasium. Ihr Sohn hatte ein Händchen für seine Schüler und war allseits beliebt. Er strahlte eine große Souveränität, aber auch Zufriedenheit und Verlässlichkeit aus. Man fühlte sich wohl und geborgen in seiner Nähe.
Ihre Tochter hingegen war eine kleine Tagträumerin – zumindest als Kind. Meistens hatte sie selbstvergessen irgendwo mit einem Buch in der Hand gesessen. Sie war ebenso klug wie ihr Bruder, doch sie ging ihren Weg nicht so geradeaus wie er. Sie wusste lange nicht, wofür ihr Herz schlug und so hatte sie den einen oder anderen Beruf in Erwägung gezogen. Glücklich war sie jedoch erst, seitdem sie einen eigenen kleinen Blumenladen führte.
Elisabeth hatte ihre Tochter einmal auf die vielen Umwege angesprochen, die diese genommen hatte. Doch die hatte nur abgewinkt und gefragt: „Gibt es wirklich Umwege, Mama? Auf allen meinen Wegen blühten Blumen am Wegesrand, an denen ich mich erfreut habe. Frag mal meinen Bruder, ob er die Blumen auf seinem Weg auch wahrgenommen hat.“

© Martina Pfannenschmidt, 2016