Die Sonne schien und Elisabeth
entschied, einen ausgiebigen Spaziergang zu machen. Sogleich kam ihr eine Frage
in den Sinn, die ihr Vater häufig gestellt hatte, als sie noch ein kleines
Mädchen war: „Wollen wir einmal um den Pudding gehen?“
Immer hatte sie mit
einer Gegenfrage geantwortet: „Um den kleinen oder den großen Pudding?“
„Natürlich um den
Großen!“, hatte ihr Vater geantwortet.
Diesen Weg wollte sie
jetzt auch nehmen.
Es war schön, sich an
solche Äußerungen zu erinnern. So gerieten all die Lieben, die bereits auf der
anderen Seite des Lebens waren, nicht in Vergessenheit.
Ihr Weg führte
Elisabeth vorbei an grünen Wiesen, auf denen die unterschiedlichsten Blumen und
Kräuter wuchsen, an denen sie sich erfreute.
So viele Heilkräuter waren darunter, von denen wir sagen, es seien ‚Unkräuter’.
War das nicht geradezu armselig? Das
Wissen darum, welche Pflanzen bei welchen Erkrankungen heilsam sind, war den Menschen
einst präsenter. Sie kannten noch die Heilmittel die direkt vor unserer
Haustür, in der ‚Apotheke Gottes’ wachsen.
Elisabeth hielt einen
Moment inne, um die Augen über das frische Grün wandern zu lassen und es in
sich aufzusaugen. Im Mai, wenn die Natur voll erwacht, zeigt sie ihr schönstes
Kleid. In ein paar Wochen würde sich das Grün verändern. So schön wie jetzt war
es nur im Wonnemonat.
Tief atmete sie ein
und nahm einen Augenblick auf einer Bank Platz. Sie schloss für einen Moment die
Augen und ließ sich die Sonne direkt ins Gesicht scheinen.
Die Sonne - ohne sie
würde kein Wachstum möglich sein. Doch ohne Regen auch nicht. Beides benötigen
wir. Die Natur hatte es wunderbar eingerichtet. Alles war fantastisch
aufeinander abgestimmt. Die Tier- und Pflanzenwelt hielt sich an den göttlichen
Plan, der dahinter stand. Elisabeth ärgerte
sich: Warum nur greift der Mensch so oft in dieses perfekte System ein?
Elisabeths Blick fiel
auf ein Weizenfeld. Wir Menschen legen ein einziges kleines Weizenkorn in die
dunkle Ackerfurche und wundern uns kaum noch darüber, dass eines Tages das Feld
zart ergrünt und später zu einem gold wogenden Ährenfeld wird. Das ist doch ein
Wunder! Haben wir es verlernt, dieses Wunder zu sehen, das mit einem Korn beginnt
und mit leckerem Brot für uns endet? Wie viel Mühe steckt darin. Das Korn wird
ausgesät, schließlich geerntet und zu Mehl gemahlen. Daraus wird ein Teig
zubereitet, der anschließend in der Glut eines Ofens gebacken wird, um eine
Familie zu nähren. Elisabeth kam eine Bibelstelle in den Sinn: ‚Denn euer Vater
weiß, was ihr bedürft, ehe ihr ihn bittet.’
Sie setzte ihren Weg
fort und kam an einem wunderschönen Bauerngarten vorbei. An einem schattigen
Plätzchen blühten die ersten Maiglöckchen.
Elisabeth erinnerte sich daran, dass eine Legende besagte, dass das
Maiglöckchen dort entstanden sei, wo Maria neben dem Kreuz ihre Tränen vergoss.
Man sagt dem Maiglöckchen auch nach, es würde dem Herzen wohl tun.
Der Monat Mai kam mit
vielen Feiertagen daher. So wurde alljährlich am 2. Sonntag im Mai der Muttertag begangen. Der Tag war dazu
da, den Müttern zu zeigen, wie wertvoll sie für die Familie waren. Elisabeth hatte
als kleines Mädchen für ihre Mutter zu diesem Tag einen Wiesenstrauß gepflückt.
Es gab wirklich viele
Gründe, den Müttern danke zu sagen für alles, was sie taten. Doch brauchte es
dazu einen besonderen Tag? Wäre es nicht schöner, sich innerhalb der Familie
während des ganzen Jahres durch kleine Gesten zu zeigen, wie wertvoll man
füreinander war? Wir sollten uns überhaupt weniger streiten und mehr
Verständnis für den anderen aufbringen.
Ihre beiden Kinder,
ein Sohn und eine Tochter, waren inzwischen selbst Eltern und Elisabeth bereits
Oma. Sie freute sich immer, wenn ihre Kinder und Enkel zu Besuch kamen. Am Muttertag
wollten sie alle gemeinsam in die Natur hinausgehen und ein Picknick
veranstalten. Jeder steuerte etwas dazu bei, so dass aus dem Muttertag für alle
ein Familientag wurde.
Ihre Kinder waren,
wie so viele andere Geschwister auch, sehr unterschiedlich in ihrer Art und in
ihrem Charakter. Der Sohn ging seinen Pfad geradeaus. Trat ein Problem auf,
wurde es aus dem Weg geräumt. Er war sehr begabt, hatte Schule und Studium ohne
Mühe geschafft und war inzwischen Schulleiter am hiesigen Gymnasium. Ihr Sohn
hatte ein Händchen für seine Schüler und war allseits beliebt. Er strahlte eine
große Souveränität, aber auch Zufriedenheit und Verlässlichkeit aus. Man fühlte
sich wohl und geborgen in seiner Nähe.
Ihre Tochter hingegen
war eine kleine Tagträumerin – zumindest als Kind. Meistens hatte sie
selbstvergessen irgendwo mit einem Buch in der Hand gesessen. Sie war ebenso
klug wie ihr Bruder, doch sie ging ihren Weg nicht so geradeaus wie er. Sie
wusste lange nicht, wofür ihr Herz schlug und so hatte sie den einen oder anderen
Beruf in Erwägung gezogen. Glücklich war sie jedoch erst, seitdem sie einen
eigenen kleinen Blumenladen führte.
Elisabeth hatte ihre
Tochter einmal auf die vielen Umwege angesprochen, die diese genommen hatte.
Doch die hatte nur abgewinkt und gefragt: „Gibt es wirklich Umwege, Mama? Auf
allen meinen Wegen blühten Blumen am Wegesrand, an denen ich mich erfreut habe.
Frag mal meinen Bruder, ob er die Blumen auf seinem Weg auch wahrgenommen hat.“
© Martina Pfannenschmidt, 2016