Freitag, 10. November 2017

Am falschen Platz

Vorsichtig öffnete Flora, das kleine Gänseblümchen, seinen weißen Blütenkranz. Es war ganz schön anstrengend gewesen, hier zu wachsen. Es sah sich um. Rechts und links neben ihm standen zwei dicke Steine. Sie waren sehr schnell als die Schuldigen ausgemacht, die ihr das Wachsen an dieser Stelle so schwer gemacht hatten.
„He“, sprach sie die beiden deshalb an, „ihr habt es mir nicht leicht gemacht, hier in die Höhe zu wachsen.“
Einer der beiden Steine öffnete kurz ein Auge, sah das kleine Blümchen an und knurrte: „Wir waren zuerst hier!“
„Ja, weiß ich doch“, antwortete Flora munter, „ich wollte mich auch gar nicht beschweren, nur sagen, dass es nicht so einfach war.“
Stille! Die Steine hatten offensichtlich kein Interesse daran, sich mit ihr zu unterhalten. Das war sehr schade. Sie sah sich weiterhin um. Es schien so, als stünde sie inmitten eines schönen Gartens. Allerdings stand sie nicht, wie ihre Artgenossen, in einer großen Gruppe auf der grünen Wiese, sondern ziemlich abseits.
Ein kleiner Marienkäfer flog über sie hinweg.
„He“, rief sie hinter ihm her, „willst du dich nicht ein bisschen auf meiner Blüte ausruhen? Dann könnten wir uns ein wenig unterhalten.“
Doch er war schon viel zu weit entfernt, um sie hören zu können. Schnurstracks flog er zu ihren Artgenossen, die auf der Wiese standen.
„Klar“, brummte Flora neidisch, „die anderen stehen ja auch direkt in der Sonne und ihre gelben Stempel leuchten und laden die Insekten zum Verweilen ein. Mich wird hier niemals jemand sehen. Ich werde ein Schattendasein führen zwischen diesen beiden Brocken.“
Zwei kurze Beinchen, die in Gummistiefeln steckten, staksten über die Wiese. Die Stiefel gehörten zu einem Mädchen mit dunklen Locken. Es bückte sich und riss einigen Gänseblümchen die Köpfchen ab. Das Kind wusste wohl nicht, was es tat und es hörte auch die Hilferufe der Gänseblümchen nicht.
„Hallo, hör auf damit. Was machst du denn da?“, rief Flora so laut sie konnte, doch alle Rufe verhallten ungehört. Flora war in diesem Moment froh, von dem Kind unentdeckt zu bleiben.
Abends war das kleine Gänseblümchen hin- und her gerissen. Sollte es sich nun freuen über seinen Platz im Abseits, den ihm das Leben zugewiesen hatte, oder sollte es doch eher traurig darüber sein, dass es nicht dort gewachsen war, wo alle anderen standen? Als es zu dämmern begann, schloss Flora ihren Blütenkranz und fiel in einen tiefen Schlaf.
Sie träumte davon, an einem plätschernden Bach zu stehen inmitten einer großen Schar ihrer Geschwister. Sie unterhielten sich und scherzten den ganzen Tag und hin und wieder kam ein Schmetterling, um ihnen von der großen weiten Welt zu erzählen. Während Flora so vor sich hin träumte, ahnte sie noch nicht, dass …
Durch ein knatterndes Geräusch wurde sie früh am Morgen abrupt geweckt. Erschrocken öffnete das Gänseblümchen seinen Blütenkranz. Ein Mann mähte die Fläche, auf der all ihre Geschwister standen. Als er seine Tätigkeit beendet hatte, war kein einziges Gänseblümchen mehr zu sehen. Flora war die einzig Überlebende.
„Sieh nur“, sprach der dickere der beiden Steine neben ihr, „gestern warst du noch traurig und der Meinung, an einem falschen Platz zu stehen und heute?“ Er ließ die Frage im Raum stehen.
„Heute weißt du“, fuhr der andere Stein fort, „dass du etwas ganz Besonderes sein musst, wenn man dir diesen Platz in unserem Schutz zugewiesen hat.“
Es stimmte. Gestern ahnte Flora noch nicht, dass … sie auf der Sonnenseite des Lebens stand. Voller Dankbarkeit, noch am Leben zu sein, streckte Flora ihre Arme der Sonne entgegen, um ihr Licht zu empfangen.


© Martina Pfannenschmidt, 2015