Vorsichtig
öffnete Flora, das kleine Gänseblümchen, seinen weißen Blütenkranz. Es war ganz
schön anstrengend gewesen, hier zu wachsen. Es sah sich um. Rechts und links
neben ihm standen zwei dicke Steine. Sie waren sehr schnell als die Schuldigen
ausgemacht, die ihr das Wachsen an dieser Stelle so schwer gemacht hatten.
„He“,
sprach sie die beiden deshalb an, „ihr habt es mir nicht leicht gemacht, hier
in die Höhe zu wachsen.“
Einer
der beiden Steine öffnete kurz ein Auge, sah das kleine Blümchen an und
knurrte: „Wir waren zuerst hier!“
„Ja,
weiß ich doch“, antwortete Flora munter, „ich wollte mich auch gar nicht
beschweren, nur sagen, dass es nicht so einfach war.“
Stille!
Die Steine hatten offensichtlich kein Interesse daran, sich mit ihr zu
unterhalten. Das war sehr schade. Sie sah sich weiterhin um. Es schien so, als stünde
sie inmitten eines schönen Gartens.
Allerdings stand sie nicht, wie ihre Artgenossen, in einer großen Gruppe auf
der grünen Wiese, sondern ziemlich abseits.
Ein
kleiner Marienkäfer flog über sie hinweg.
„He“,
rief sie hinter ihm her, „willst du dich nicht ein bisschen auf meiner Blüte
ausruhen? Dann könnten wir uns ein wenig unterhalten.“
Doch
er war schon viel zu weit entfernt, um sie hören zu können. Schnurstracks flog
er zu ihren Artgenossen, die auf der Wiese standen.
„Klar“,
brummte Flora neidisch, „die anderen stehen ja auch direkt in der Sonne und
ihre gelben Stempel leuchten und laden die Insekten zum Verweilen ein. Mich
wird hier niemals jemand sehen. Ich werde ein Schattendasein führen zwischen
diesen beiden Brocken.“
Zwei
kurze Beinchen, die in Gummistiefeln steckten, staksten über die Wiese. Die
Stiefel gehörten zu einem Mädchen mit dunklen Locken. Es bückte sich und riss einigen
Gänseblümchen die Köpfchen ab. Das Kind wusste wohl nicht, was es tat und es
hörte auch die Hilferufe der Gänseblümchen nicht.
„Hallo,
hör auf damit. Was machst du denn da?“, rief Flora so laut sie konnte, doch
alle Rufe verhallten ungehört. Flora war in diesem Moment froh, von dem Kind
unentdeckt zu bleiben.
Abends
war das kleine Gänseblümchen hin- und her gerissen. Sollte es sich nun freuen über
seinen Platz im Abseits, den ihm das Leben zugewiesen hatte, oder sollte es
doch eher traurig darüber sein, dass es nicht dort gewachsen war, wo alle
anderen standen? Als es zu dämmern begann, schloss Flora ihren Blütenkranz und
fiel in einen tiefen Schlaf.
Sie
träumte davon, an einem plätschernden Bach zu stehen inmitten einer großen Schar
ihrer Geschwister. Sie unterhielten sich und scherzten den ganzen Tag und hin
und wieder kam ein Schmetterling, um ihnen von der großen weiten Welt zu erzählen.
Während Flora so vor sich hin träumte, ahnte sie noch nicht, dass …
Durch
ein knatterndes Geräusch wurde sie früh am Morgen abrupt geweckt. Erschrocken
öffnete das Gänseblümchen seinen Blütenkranz. Ein Mann mähte die Fläche, auf
der all ihre Geschwister standen. Als er seine Tätigkeit beendet hatte, war
kein einziges Gänseblümchen mehr zu sehen. Flora war die einzig Überlebende.
„Sieh
nur“, sprach der dickere der beiden Steine neben ihr, „gestern warst du noch traurig
und der Meinung, an einem falschen Platz zu stehen und heute?“ Er ließ die
Frage im Raum stehen.
„Heute
weißt du“, fuhr der andere Stein fort, „dass du etwas ganz Besonderes sein
musst, wenn man dir diesen Platz in unserem Schutz zugewiesen hat.“
Es
stimmte. Gestern ahnte Flora noch nicht, dass … sie auf der Sonnenseite des
Lebens stand. Voller Dankbarkeit, noch am Leben zu sein, streckte Flora ihre Arme
der Sonne entgegen, um ihr Licht zu empfangen.
©
Martina Pfannenschmidt, 2015