Rosenduft stieg in Annabelles Nase, als sie heißes
Wasser in die Tasse goss, um sich einen Tee aus Rosenblättern zuzubereiten. Sie
nahm die große Tasse mit dem wohlriechenden Inhalt an sich und ging zu einem
Fenster, aus dem sie einen weiten und freien Blick genießen konnte. Sie liebte
das Leben auf dem Land und diese Aussicht ganz besonders.
Annabelle beobachtete, wie der Wind mit den
herabgefallenen Blättern sein Spiel trieb und welche Freude er daran hatte, die
dicken Watte-Wolken über das Firmament zu jagen. Dabei warfen sie ihren
Schatten auf das abgeerntete Feld. Eine Weile verfolgte sie dieses Schauspiel,
als ihr der Gedanke kam, dass alles Licht benötigt, sogar der Schatten, denn
ohne Licht gäbe es selbst ihn nicht.
In der Ferne vernahm sie Kraniche, die in ihrer
bekannten Keil-Form Richtung Süden zogen. Ihr Rufen war weithin zu hören und
ein weiteres Indiz dafür, dass der Herbst Einzug gehalten hatte.
Nun war sie endgültig vorbei, die Zeit der lauen
und langen Sommernächte, doch dafür warteten kuschelige Momente auf sie, mit
einem guten Buch bei Kerzenschein in einem wohlig-warmen Zimmer. Ein durchaus
verlockender Gedanke.
Annabelle winkte ihren Buben zu und musste lachen, weil sie gemeinsam mit
ihrem Großvater versuchten, am Himmel einen wilden Drachen zu bändigen. Kinder
haben noch die Gabe, sich jeder Jahreszeit anzupassen und ihr das Beste
abzugewinnen. Die Erwachsenen hadern oft mit dem Herbst, doch im Moment zeigte
er sich keineswegs grau und dunkel, sondern in seiner ganzen Pracht. Die
Blätter des wilden Weines am Nachbarhaus erstrahlten in den herrlichsten
Rottönen, besonders in der Spanne, in der Sonnenstrahlen auf sie fielen.
Annabelle konnte sich nicht satt sehen an all den
Farben in ihren unterschiedlichen Nuancen. Bald wäre diese malerische Zeit
vorüber und es galt, den grauen November mit all seinen traurigen Feiertagen anzunehmen, doch bis dahin
wollte sie noch viele herbstliche Sonnenmomente genießen.
Als die Haustür aufflog und ihre Kinder ins Haus
stürmten, wandte sie sich um.
„Du Opa, was ist denn eigentlich ein
Altweibersommer?“, fragte ihr Großer wissbegierig und Annabelle lauschte der
Antwort ihres Vaters ebenso, wie ihre Söhne.
„Lasst uns zuerst einmal reinkommen und unsere
Jacken ausziehen“, meinte dieser jedoch in seiner besonnenen Art, „danach
ziehen wir die Schuhe aus, damit wir der Mama nicht alles schmutzig machen. Was
haltet ihr davon, wenn wir uns anschließend in die Küche begeben, eine heiße
Schokolade trinken und ich es euch dabei erzähle?“
Die Jungs nahmen diesen Vorschlag begeistert an,
warfen ihre Schuhe mit einem Schwung in die Ecke und eilten Richtung Küche.
Eine Weile später: „Also, das mit dem
Altweibersommer ist so: Im Herbst gibt es oft ein paar besonders schöne und
warme Tage, die uns an den Sommer erinnern. Doch morgens ist es vielfach
empfindlich kühl und es bildet sich Nebel. In dieser Zeit sind Spinnennetze
besonders gut zu erkennen. Man kann sie überall entdecken: an Gräsern, Blumen
und Zäunen zum Beispiel. Da die Spinnennetze in der Sonne aussehen wie silbrig glänzende
Fäden, erinnern sie sehr an die grauen Haare älterer Frauen. Man denkt deshalb,
dass der Begriff damit zu tun haben könnte.“
„Ob Oma das weiß?“, erkundigte sich der Kleine.
„Wenn nicht, müssen wir es ihr unbedingt erzählen.“ Anschließend bat er: „Opa,
kannst du uns noch mehr über den Herbst erzählen?“
„Na klar kann ich“, erwiderte dieser mit stolz
geschwellter Brust. „Als ich noch ein Schulkind war, bekam ich genau wie ihr im
Herbst Ferien und nun dürft ihr raten, wie wir diese Zeit nannten.“
Die Kinder sahen sich an, zogen die Schultern hoch
und entgegneten: „Na, Herbstferien, halt!“
„Ne, eben nicht“, feixte Opa, „wir nannten sie
‚Kartoffelferien’ und wollt ihr wissen, weshalb?“
Nachdem beide Kinder übereinstimmend genickt
hatten, erzählte er es bereitwillig.
„Die Herbstzeit ist ja eine Zeit der Ernte und so gingen wir Kinder mit unseren
Eltern und Großeltern gemeinsam zum Acker, auf dem die Kartoffeln wuchsen und
ernteten sie. Damals fuhr man noch nicht mit großen Erntemaschinen über die
Felder, sondern die Männer hoben die Kartoffeln mit Forken aus der Erde und die
Frauen und Kinder holten die Erdäpfel mit den Händen heraus. Ihr müsst aber
nicht denken, dass wir es als Arbeit empfanden und keine Freude daran hatten.
Ganz und gar nicht. Es war eine wirklich schöne Zeit. Die ganze Familie half
und mein Großvater hat mir damals aus seiner Kindheit erzählt, so wie ich es
heute tue. Besonders toll fand ich allerdings die Pausen. Dann gab es Brote mit
dick Butter und Wurst darauf. Wasser, um sich vorher die Hände zu waschen,
hatten wir nicht. Wir wischten sie einfach an unseren Hosen ab und bissen
anschließend herzhaft in unser Brot. ‚Dreck scheuert den Magen’, sagte mein
Großvater häufig.“
„Siehste Mama“, fiel ihr Großer Opa ins Wort, „und
bei dir müssen wir uns ständig die Hände waschen.“
„Schaden kann es auch wieder nicht“, meinte Opa
schnell, nachdem er den mahnenden Blick seiner Tochter vernommen hatte.
„Erzähl weiter, Opa!“, bat jetzt der größere der
beiden Brüder.
„Die Kartoffeln sammelten wir in Drahtkörben. Wenn
sie voll waren, konnten wir Kinder diese nicht mehr anheben, weil sie viel zu
schwer für uns waren. Deshalb riefen wir nach einem starken Mann, der die Körbe
abholte und die Kartoffeln in einen Hänger schüttete. Wenn die Arbeit getan
war, kam ein besonders schöner Teil. Direkt auf dem Feld verbrannte man die
trocknen Blätter der Kartoffeln. Zu Anfang bildete sich oft viel dunkler Rauch
und deshalb mussten einige husten.
Doch bald darauf wurde es ein richtig großes Feuer, das weithin sichtbar war.
Einige Kartoffeln hatten wir vorher beiseite gelegt. Die kamen auf lange Stöcke
und wurden ins Feuer gehalten. Wenn die Erdäpfel gar waren, haben wir sie
direkt vor Ort mit ein bisschen Salz darauf gegessen. Das war einfach köstlich,
kann ich euch sagen!“
„Können wir das auch mal machen?“, bettelten die
Kinder.
Opa überlegte kurz, bevor er antwortete: „Also,
wenn Mama einverstanden ist, nehme ich euch mit zu Oma Hannelore, dann könnten
wir es gleich heute bei uns zu Hause mit Holzkohle auf unserem alten Grill
ausprobieren und anschließend dürft ihr bei uns übernachten. Was haltet ihr
davon?“
Die Antwort ihrer Mutter warteten die beiden Buben
gar nicht ab. Jubelnd sprangen sie von den Stühlen und liefen in ihre Zimmer,
um die Rucksäcke zu packen.
Annabelle sah ihren Vater dankbar an. Ihr war
bewusst, dass er gerade einen kleinen Keim ins Herz ihrer Kinder gelegt hatte.
Dort konnte er nun reifen, um später als kostbare Erinnerung an ihren Opa und
ihre Kindheit aufzugehen.
© Martina Pfannenschmidt, 2016